Normannen-Ausstellung in Mannheim: Halb so wild
Die Mannheimer Reiss-Engelhorn-Museen zeigen eine Ausstellung über die Normannen. Beklemmend aktuell: Viele russische Exponate fehlen.
Die Normannen haben meist bekommen, was sie wollten, eine Ausstellung über sie muss allerdings gerade auf einiges verzichten; und das ist natürlich erst mal misslich für eine Großshow, an der seit Jahren gearbeitet wird. Doch im Frühjahr überfiel Russland sein Nachbarland, nicht ohne zuvor durch seinen obersten Führer und Chefhistoriker Wladimir Putin verkünden zu lassen, dass es die Ukraine als Nation gar nicht gebe.
Ein solches Geschehen von welthistorischer Bedeutung kann nicht ohne Auswirkungen auf ein Projekt bleiben, das sein Publikum mit einem Saal zur „Kiewer Rus“ begrüßt, also dem politischen und kulturellen Raum zwischen Ostsee und Schwarzem Meer, in dem sich zwischen dem 8. und dem 10. Jahrhundert nach Christus eine mal friedliche, mal brutale Symbiose der dort lebenden Ethnien mit Eroberern, Sklavenhändlern und Kaufleuten aus Skandinavien – eben den Normannen – vollzieht.
Knapp zwei Dutzend Exponate aus Russland, insbesondere aus der Eremitage in St. Petersburg, erfährt man beim Presserundgang und im gut lesbaren Katalog, haben nicht den Weg ins historische Zeughaus der Mannheimer Reiss-Engelhorn-Museen gefunden. Die Zusagen wurden zurückgezogen, beziehungsweise wurde eine Ausleihe durch das Kriegsgeschehen unmöglich. Das, schreiben die Ausstellungsmacher:innen, sei umso bedauerlicher, als es ein Anliegen gewesen sei, Geschichtsmythen aufzuzeigen und zu überwinden, gerade wenn unter Rückgriff auf eine Interpretation der „Kiewer Rus“ als „Keimzelle Russlands“ aktuelle politische Entscheidungen – also ein verbrecherischer Krieg – begründet und die Vergangenheit einmal mehr instrumentalisiert werde.
Einmal mehr: Denn schon zu realsozialistischen Zeiten war es immer das Bestreben einer ideologisch gelenkten Geschichtswissenschaft gewesen, das slawische Element der Staatsgründungen mit dem Zentrum Kiew zu betonen und den normannischen Einfluss zu minimieren. Insofern ist der das Multikulturelle und Multiethnische betonende Empfang in Mannheim durchaus angemessen, wenn auch sinnlich etwas mager.
Verweise auf die ukrainische Geschichte
Doch der Mangel schafft Raum für einen Blick auf eine äußerst unscheinbare Scherbe, deren Verzierung und Bedeutung sich eben gerade nicht über eine spektakuläre Sinnlichkeit des Objekts erschließt. Es handelt sich um ein Amphorenfragment aus der Mitte des 11. Jahrhunderts mit einem eingeritzten Zweizack, dem Symbol der normannischen Herrscherdynastie in Kiew. Um einen Zacken erweitert schmückt das Symbol heute das offizielle Wappen der Ukraine, als Dreizack eben. Die Amphore wiederum, hat die Wissenschaft herausgefunden, enthielt Wein aus Griechenland, der über die von den Normannen – in Osteuropa „Waräger“ genannt – erschlossene Flussroute bis nach Schweden gelangte. Heute hat das Fragment sein Zuhause im Museum von Sigtuma bei Stockholm – ein langer, aber nicht unüblicher Weg für einen dann hoffentlich guten Wein.
Vielleicht muss man an dieser Stelle die Begriffe klären. Vereinfacht gesagt sind die Normannen („Nortmanni“) die christianisierten Enkel der heidnischen Wikinger, die seit dem Überfall auf das englische Kloster Lindisfarne am 8. Juni 793 zum Schrecken Europas und des Mittelmeerraumes geworden waren. Wikinger plündern und morden, Normannen bleiben und herrschen: in Osteuropa, in der nach ihnen benannten Normandie, in Katalonien, Sizilien und Süditalien, kurzfristig auch im heutigen Tunesien und natürlich in England, das Normannen aus der Normandie beginnend mit der Schlacht von Hastings 1066 erobern. Das Wort Rus wiederum wird vom altnordischen Begriff für Ruderer abgeleitet, die Finnen nennen die Schweden heute noch „ruotsi“.
Geblieben ist von alldem Normannischen im Wesentlichen Calvados und großartige Kunst – und natürlich die Populärkultur. Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts war die befüllt mit Asterix-Witzen über die furchtlosen Normannen Maulaf, Telegraf und Stenograf, mit den epischen Warägerfahrten aus den Prinz-Eisenherz-Comics und mit Figuren wie Hägar dem Schrecklichen und Wickie. All das ist inzwischen verdrängt worden von Streaming-Serien wie „Vikings“ – die Wikinger sind auch nur Menschen mit Problemen –, unbedingt sehenswertem Brutalo-Kino-Trash à la „Pathfinder“ und sehr gelungenen TV-Satiren wie „Beforeigners“. Auch die „Herr der Ringe“-, wenn nicht die gesamte Mittelaltermanie ist ohne die Folie der wilden Mannen aus dem Norden nicht denkbar, wobei „Ringe“-Schöpfer J. R. R. Tolkien selbst sich wiederum von nordischen Mythen und Sagas anregen ließ.
Es geht bei einer Schau über die Normannen also immer mindestens so sehr um Geschichten, wie es um Geschichte geht. Deswegen gibt es in Mannheim Videowände mit Kriegsszenen zu sehen, es gibt Helme zum Aufsetzen, Kettenhemden zum Anziehen und Fühlboxen, in deren Innerem Materialproben der ausgestellten, unberührbaren Exponate angefasst werden können.
Eine Lektion in Sachen Kulturaustausch
Das alles stört jedenfalls nicht, letztlich sind es aber immer die Exponate, ihre Aura, ihre Geschichtsgesättigtheit, ihre schlichte Schönheit oder das von ihnen hervorgerufene Grauen – etwa bei eisernen Sklavenfesseln –, die das Publikum faszinieren oder eben nicht.
Jede Geschichtsschau lebt von Voraussetzungen, die sie selbst nicht garantieren kann: Empfänglichkeit, Interesse, Fähigkeit sich einzulassen und zu versenken. In der Mannheimer Ausstellung gibt es zahlreiche Exponate, die auch Nerdverächter begeistern können und die die ganze Spannbreite des kulturellen Raums repräsentieren: eine grimmig putzige Normannen-Schachfigur aus Schottland; eine hochexpressiv-expressionistische romanische Altartafel aus Katalonien, eins der ältesten überhaupt überlieferten Gemälde auf Holz; ein silberner „Walküren“-Anhänger aus Ipswich, vielleicht eine Darstellung der kriegerischen Schildmaiden aus den Sagas (von Kriegerinnen unter den Normannen berichten auch byzantinische und irische Autoren); und schließlich der sogenannte Krönungsmantel Karls des Großen, der in den königlich-normannischen Werkstätten in Palermo gefertigt wurde und heute im Museum in Metz verwahrt wird.
Mit ihm war vermutlich auch der römisch-deutsche Kaiser Friedrich II. bei seiner Krönung 1220 geschmückt, seine Mutter war die Normannin Konstanze. Neben vielen imperialen Adlern sind auf dem Mantel zahlreiche Halbmonde und florale Ornamente zu sehen, die auf orientalische Traditionen verweisen. Friedrich herrschte eben in Sizilien auch über eine arabische Bevölkerung und wollte sie repräsentiert sehen.
Damit betritt man natürlich das Reich der Interpretation. Aber wenn man den Erkenntnisgewinn, den „Die Normannen“ vermittelt, zusammenfassen möchte, dann ist es deren große Begabung, die barbarischen Wikingerhelme zügigst abzulegen, vom Fremden zu lernen und, eher als es zu unterwerfen, sich von ihm beeinflussen, ja überwältigen zu lassen; und das wird man dann wohl eine hochaktuelle Lektion nennen dürfen.