Nördliches Breitmaulnashorn: Noch nicht ganz ausgestorben
Mit im Labor hergestellten Embryonen und Leihmutterschaft wollen Forschende eine bedrohte Nashornart retten. Wie viel ist der Natur damit geholfen?

Mit einer weißen Plane bedeckt Thomas Hildebrandt den staubigen Boden. Dann setzt er sich auf eine gelbe Getränkekiste, die an einem Klapptisch mit Bildschirm steht. Das Team des Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung hat die Szene aus dem Juli 2021 gefilmt, denn der Veterinärmediziner Hildebrandt bereitet hier einen medizinischen Eingriff vor, der über das Überleben einer Art mit entscheiden könnte.
Im kenianischen Naturschutzreservat Ol Pejeta ist die Getränkekiste am Klapptisch damals Hildebrandts provisorischer Arbeitsplatz. Von Soldaten beschützt leben hier im Reservat die letzten beiden weiblichen Nördlichen Breitmaulnashörner, Najin und ihre Tochter Fatu. Thomas Hildebrandt fliegt regelmäßig zehn Stunden aus Berlin hierher. Er leitet die Abteilung für Reproduktionsmanagement am Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung und will das Nördliche Breitmaulnashorn noch nicht aufgeben.
Als 2018 Sudan starb, der letzte Bulle, ging die Nachricht um die Welt. Weil das Schicksal der Unterart besiegelt schien. Aber auch, weil schon damals Ideen öffentlich wurden, wie Najin und Fatu trotzdem Nachwuchs bekommen könnten. Obwohl beide zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr in der Lage waren, selbst eine Schwangerschaft auszutragen. Die Hoffnung: moderne Reproduktionsmedizin und Stammzellenforschung.
Der Plan geht so: Der Nashornkuh Fatu sollen Eizellen entnommen und diese mit den konservierten Spermien bereits verstorbener männlicher Tiere befruchtet werden. Die im Labor so gezüchteten Embryos sollen dann einem Südlichen Breitmaulnashorn als Leihmutter eingesetzt werden. Die entstandenen Retortenhörner würden letztendlich zu einem den Genpool sichernden Bestand gezüchtet und wieder ausgewildert.
Zwei neue Leihmütter warten bereits
Heute, im Juni 2025, wurde Embryo Nummer 37 erfolgreich hergestellt. Viele davon lagern in flüssigem Stickstoff bei minus 196 Grad Celsius in Berlin. Am 30. Juni geht es für Thomas Hildebrandt und sein Team von dort aus wieder nach Kenia. Zwei neue Leihmütter warten bereits. Ihnen sollen Embryos eingesetzt werden.
Die Eizellen stammen aus Entnahmen wie der, die auf dem Video aus dem Jahr 2021 festgehalten ist. Auf der Plane liegt jetzt die betäubte Nashornkuh Fatu. Thomas Hildebrandt und seine Kollegin Susanne Holtze sitzen hinter ihr. Die Tierärztin Susanne Holtze versucht über eine Spritze, die mit dünnen Schläuchen verbunden ist, Fatus Eizellen abzusaugen.
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Hildebrandt und Holtze starren konzentriert auf den Monitor. „Fangen wir mit dem Follikel hinten an oder mit dem außen?“, fragt Hildebrandt. Seine Kollegin hat wortlos entschieden, und pumpt ein paar Mal mit der Spritze. Die durchsichtige Flüssigkeit in dem Auffangbehälter färbt sich orangerot. Sie reicht die Flasche einem Kollegen weiter. „Schnell, die muss ins Warme.“
Ist das sinnvoller Artenschutz?
Mit sechs Millionen Euro hatte das Forschungsministerium Thomas Hildebrandts Projekt BioRescue gefördert. Dass das Team seitdem über 30 Embryonen erzeugen könnte, ist wissenschaftlich gesehen eine faszinierende Leistung. Aber ist es auch ein wirklich sinnvoller Beitrag zum Artenschutz?
Meteoriten, Fluten und Eiszeiten haben im Laufe der Jahrmilliarden schon fünf große Massensterben von Arten ausgelöst. Die Anzeichen verdichten sich auf ein sechstes, ausgelöst von der Naturkatastrophe Mensch.
Bald jede vierte Säugetierart ist heute vom Aussterben bedroht. Ihre Lebensbedingungen verändern sich schneller, als dass sich die Natur anpassen könnte. Während in Laboren an wissenschaftlichem Arterhalt geforscht wird, geht anderswo die Zerstörung von Lebensräumen weiter. Von den fünf Nashornarten sind alle gefährdet. „Wir haben über Jahrhunderte bewiesen, wie effektiv wir Natur zerstören können“, sagt Thomas Hildebrandt. „Jetzt zeigen wir, dass Wissenschaft etwas reparieren kann.“
Auch das Südliche Breitmaulnashorn, von dem es mittlerweile wieder 15.000 Tiere gibt, geht auf eine kleine Gruppe von möglicherweise nur etwa 20 Individuen zurück, die Anfang des 20. Jahrhunderts überlebt hatten, als man dachte, die Unterart sei bereits ausgestorben.
Künstliche Eizellen als möglicher Gamechanger
BioRescue will mehr sein als ein Beweis, was Wissenschaft alles kann. „Unsere Mission ist es, eine Schlüsseltierart ihrem Lebensraum zurückzubringen“, so Hildebrand. Die komplexe Abhängigkeitskette der Spezies geht etwa so: „Die Nashörner verteilen Pflanzensamen. Der Pillendreher“ – ein Käfer – „verarbeitet den Dung. Insekten schlüpfen aus dem Kot, Fledermäuse fressen die Insekten. Antilopen nutzen die ausgetrampelten Wege der Nashörner, um vor ihren Fressfeinden zu flüchten.“
Auch, wenn Najin und Fatu die Entnahmen der Eizellen immer gut weggesteckt haben, stellt sich die ethische Frage: Was darf man den Tieren zumuten? Inwiefern steht der Artenschutz über dem individuellen Tierwohl? Das internationale Konsortium um Thomas Hildebrandt gründete für diese Fragen einen eigenen Ethikrat. Der entschied, der inzwischen 35-jährigen Najin keine Eizellen mehr zu entnehmen. Die Entscheidung halbierte die Erfolgschancen auf einen Embryo zunächst. Bis eine weitere Technik ins Spiel kam. Der mögliche Gamechanger: künstliche Eizellen.
Künstliche Eizellen müssen nicht bei einer Operation entnommen werden, sondern werden im Labor aus sogenannten induzierten pluripotenten Stammzellen gezüchtet. Das wiederum sind Zellen, die in Stammzellen zurückverwandelt wurden. Bis vor wenigen Jahren kannten die Zellen nur eine Richtung: Stammzellen differenzieren sich in spezifische Zelltypen oder Gewebe aus. 2006 gelang es Shin’ya Yamanaka andere Körperzellen in Stammzellen umzuprogrammieren. Dafür erhielt der japanische Forscher einen Nobelpreis.
Thomas Hildebrandt, Forscher
BioRescue ist es gelungen, induzierte pluripotente Stammzellen sowie Urkeimzellen vom Nashorn herzustellen. Der nächste Forschungsschritt ist, diese in Keimzellen zu verwandeln, also in Spermien oder Eizellen. Bei Mäusen hat das schon geklappt, bei Nashörnern noch nicht. Würde es klappen, müssten Fatu keine Eizellen mehr entnommen werden. Außerdem wären mehr Nashörner zurück im Genpool: Neben Nashornoma Najin auch Bullen, von denen Gewebeproben eingefroren wurden.
Gelingt auch der Schutz des Lebensraums?
Falls es dem Team gelingen sollte, Nördliche Breitmaulnashörner zu züchten, müssen ihnen andere Nashörner das Leben in der Wildnis beibringen. Dann steht die nächste wesentliche Herausforderung bevor: die Suche und Sicherung des Habitats. Artenschutz bedeutet schließlich nicht, den Genpool der übrigen Tierarten auf Trockeneis zu legen, um sie in besseren Zeiten in einem Jurassic Park wieder aufzutauen. Artenschutz bedeutet vor allem, Lebensraum zu schützen.
Und noch eine weitere ethische Ebene zeigt sich in den neuen Möglichkeiten: Die Technologien verschieben ein ums andere Mal unser Verständnis von Leben und Tod. Können wir zum Leben erwecken, wen und was wir wollen?
Im März stellten Stammzellenforschende aus den USA ihre neueste Schöpfung aus dem Labor vor: eine Wollhaarmaus, deren goldgelbe Felltextur aus denen von Mammuts stammt. Im April behauptete ein US-Unternehmen, eine zur Zeit der Mammuts ausgestorbene Wolfsart wiederbelebt zu haben. Forscher*innen wiesen das als Übertreibung zurück. Das Unternehmen hatte Zellen eines Grauwolfs mit der jahrtausendealten DNS eines Wolfszahns aus einem Museum editiert. Ein Jagdhund diente als Leihmutter.
Mit solchen Frankensteinexperimenten hat das Team um Thomas Hildebrandt nichts am Hut. Er zieht die Grenze an einer definitorischen Kernfrage: Hat das Zurückbringen einer Tierart eine ökologische Funktion? „Den Versuch, den Tasmanischen Tiger zurückzuholen, halte ich schon für grenzwertig“, so Hildebrandt. Der Dodo wäre besonders populär, sei aber nicht mehr als eine akademische Übung.
Eine Nashornschwangerschaft gab es schon
Auch das Mammut auferstehen zu lassen, sei sinnlos, eben weil es sein ökologisches System nicht mehr gibt. „Daher grenzen wir uns entschieden von diesen Versuchen ab, auch wenn wir die Technologie dafür entwickeln können.“ Bei den Breitmaulnashörnern sei die Lage anders. „Deren Habitate sind noch vorhanden. Und die Habitate brauchen die Nashörner.“
Darum setzt BioRescue die Arbeit an den Tieren fort, die noch leben. Anfang des Jahres verkündete das Leibniz-Institut, weitere Embryonen von Fatu produziert zu haben, die in Leihmüttern zu Nördlichen Breitmaulnashornbabys heranwachsen sollen. Im vergangenen Jahr gab es die erste Nashornschwangerschaft nach einem Embryotransfer. Das Südliche Breitmaulnashorn Curra war 70 Tage lang mit einem im Labor erzeugten Embryo ihrer eigenen Unterart trächtig. Doch dann starb die schwangere Nashornkuh an einer Infektion.
Nachdem Thomas Hildebrandt und sein Team Ende Juni in Kenia zwei neuen Leihmüttern hoffentlich Embryos eingesetzt haben, reisen sie nicht zurück nach Berlin. Es geht gleich weiter nach Indonesien. Dort wollen die Forschenden ihr Wissen an Kolleg*innen vor Ort weitergeben, die mit dem Ansatz arbeiten möchten. Denn auch das Java-Nashorn und das Sumatra-Nashorn sind bedroht.
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