Nobelpreisträger Liu Xiaobo ist gestorben: Ein Leben für die Menschenrechte
Der chinesische Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo ist tot. Seine Hoffnung, ein freieres politisches System zu schaffen, sollte sich nicht erfüllen.
Das war jedoch auch schon alles, was Chinas Führung an Barmherzigkeit dem Friedensnobelpreisträger und seiner Frau zugestand.
In den Tagen zuvor hatte Liu Xia die Behörden geradezu angefleht, ihren schwer an Leberkrebs erkrankten Mann nach Heidelberg ausfliegen und ihn von deutschen Ärzten behandeln zu lassen. Auch die Bundesregierung hatte sich dafür eingesetzt. Doch die chinesischen Behörden lehnten ab. Er sei nicht mehr transportfähig, lautete die offizielle Begründung. Dabei waren ein deutscher sowie ein US-amerikanischer Arzt, die ihn am Wochenende zuvor untersuchen durften, noch zu einer anderen Einschätzung gekommen. Die Botschaft der chinesischen Führung war klar: Liu sollte selbst im Sterben noch bestraft werden.
Mit dem Tod von Liu Xiaobo ist einer der tapfersten und scharfsichtigsten Kritiker des chinesischen Regimes verloren gegangen. Die chinesische Regierung hatte den Philosophen, Literaturwissenschaftler und Dichter bereits vor Jahren zu einem ihrer ärgsten Staatsfeinde erkoren – obwohl Liu nur über eine einzige Waffe verfügte: das geschriebene und gesprochene Wort.
Untypische Sprache
In Hunderten Analysen, Interviews und Berichten dokumentierte er die Schattenseiten des chinesischen Aufstiegs. Liu schrieb über das Schicksal seiner Mitstreiter, die unter den korrupten Parteisekretären zu leiden hatten. Er deckte die Lügen der herrschenden Kommunistischen Partei auf. Und er schilderte die Ausbeutung von Millionen von Wanderarbeitern, die zu niedrigen Löhnen die wahren Helden des chinesischen Wirtschaftswunders waren.
All das tat er in einer unverblümten Sprache, wie sie für chinesische Dichter bis heute untypisch ist – nahe dran an der aktuellen gesellschaftlichen Realität und für all jene ein Augenöffner, die sich von den vielen hochgezogenen blinkenden Wolkenkratzern und Shoppingmalls haben blenden lassen.
Und das alles tat er unter Umständen, die alles andere als einfach für ihn waren: Denn die Funktionäre der seit 1949 im Land herrschenden Kommunistischen Partei, ihre Geheimpolizisten und Helfer ließen keine Gelegenheit aus, ihn und seine Frau zu demütigen oder auf andere Weise zu schikanieren.
Geboren und aufgewachsen inmitten der Wirren der Kulturrevolution der sechziger und siebziger Jahre, musste Liu Xiaobo schon in jungen Jahren miterleben, wie grausam das kommunistische Regime war. Der damalige Staatsführer Mao Tse-tung hatte Millionen – vor allem junge – Leute dazu angestiftet, mit sämtlichen Traditionen zu brechen. Er ermunterte sie, ihre Eltern und Lehrer, Geschwister und Freunde zu denunzieren und zu demütigten.
Reisen nach Hawaii und New York
Lius Familie wurde, wie viele Stadtbewohner und besonders Akademiker in jener Zeit, aufs Land umgesiedelt. Als „verwöhnte Städter“ sollten sie das „wahre Leben“ kennenlernen. Vier Jahre mussten sie dort ausharren.
Als die Universitäten wieder unterrichten durften, konnte Liu in Peking zunächst Literaturwissenschaften studieren, später wurde er dort Dozent.
Nach dem Tode Maos, als sich das Land allmählich öffnete, konnte Liu nach Oslo, Hawaii und New York reisen, um dort zu forschen und zu lehren.
Als im Frühjahr 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens, dem Tiananmen-Platz im Herzen Pekings, die Demokratie-Proteste ausbrachen, kehrte er aus New York zurück. Er organisierte Diskussionen, veröffentlichte Aufrufe. In dieser Zeit lernte er auch seine spätere Frau Liu Xia kennen, eine damals bereits bekannte Dichterin.
Als in der Nacht zum 4. Juni Panzer auffuhren und damit begannen, die Proteste blutig niederzuschlagen, bewahrte Liu etliche Aktivisten vor dem Tod, indem er auf sie einredete, sich ja nicht selbst aufzuopfern und den Platz zu verlassen. Sein Engagement auf dem Tiananmen brachte ihm seine erste Gefängnisstrafe ein. Er musste für zwei Jahre in Haft – und kam erst frei, nachdem er ein „Geständnis“ unterschrieben hatte.
Für eine Demokratisierung
Dieses „Geständnis“ bereute er später tief. Es hielt ihn aber nicht davon ab, auch weiter über die Missstände zu berichten und sich für eine Demokratisierung seines Landes einzusetzen. Er ließ sich selbst auch dann nicht einschüchtern, als die KP-Führung ihn für weitere Jahre ins Arbeitslager steckte. Seine Freundin Liu Xia heiratete er 1996 in einem Arbeitslager, es war seine zweite Ehe.
Dabei waren Lius Forderungen nicht einmal besonders radikal. Er forderte ein, was einige der Machthaber in Peking zwischenzeitlich selbst immer wieder vorbrachten: Rechtssicherheit, Verwaltungsreformen, eine Demokratisierung der Gesellschaft. Seine ursprünglich oft sehr scharfen Formulierungen wurden in späteren Jahren milder und verbindlicher. „Ich habe keine Feinde, ich kenne keinen Hass“, sollte er zu seinen Richtern sagen, die ihn am Ende ins Gefängnis warfen.
Endgültig zum Verhängnis für ihn wurde ausgerechnet das Pekinger Olympiajahr 2008, als die chinesische Führung sich als weltoffen und tolerant präsentieren wollte.
Liu und seine Mitstreiter sahen die Zeit gekommen, eine sogenannte Charta 08 zu formulieren, die sich an der Charta 77 orientierte, dem Bürgerrechtsappell des tschechischen Autors Václav Havel.
Ein Sturm der Begeisterung
Darin entwarfen Liu und seine Freunde die Vision eines anderen China: eines Landes, in dem die Gesetze über der Partei stehen und nicht umgekehrt – und in dem verfassungsgemäß mehrere Parteien konkurrieren.
Innerhalb weniger Stunden verbreitete sich diese Petition im chinesischen Internet und löste einen Sturm der Begeisterung aus. Viele Bürger in China identifizierten sich damit. „Vor der Charta 08 mussten wir in Einsamkeit leben“, beschrieb damals einer der Unterzeichner das Gefühl. „Danach wussten wir, es gibt viele andere, die ähnlich denken und sich mehr Mitbestimmung und Demokratie wünschen.“
Die chinesische Führung reagierte schnell und scharf: Im Dezember holten Polizisten Liu aus seiner Wohnung und brachten ihn an einen unbekannten Ort, seine Ehefrau wurde unter Hausarrest gestellt. Ende 2009 wurde Liu vor Gericht gestellt und in einem Schauprozess wegen „Untergrabung der Autorität des Staates“ zu elf Jahren Gefängnis verurteilt.
Als ihm 2010 der Friedensnobelpreis verliehen wurde, blieb sein Stuhl in Oslo leer. Seine Frau Liu Xia stand weiterhin – ohne offizielle Anklage – unter Hausarrest, sie durfte nicht ausreisen, um die Ehrung in seinem Namen entgegenzunehmen.
Haft und Schikane
Dass er trotz der Haft und Schikane all die Jahre nicht an Mut verlor, hatte er der selbstlosen Liebe seiner Frau zu verdanken. „Deine Liebe ist das Sonnenlicht, das über hohe Mauern springt und die Gitterstäbe meines Gefängnisfensters durchdringt, jeden Zentimeter meiner Haut streichelt, jede Zelle meines Körpers wärmt und mir erlaubt, immer Frieden, Offenheit und Helligkeit in meinem Herzen zu bewahren, und jede Minute meiner Zeit in Haft mit Bedeutung erfüllt“, schrieb er 2009, kurz bevor er verurteilt wurde.
„Ich sitze meine Strafe in einem konkreten Gefängnis ab, während du in dem unfassbaren Gefängnis des Herzens wartest“, schrieb er weiter. Dieses Warten hat nun ein tragisches Ende genommen.
***
Zum zehnten Jahrestag des 4. Juni von 1989 verfasste Liu Xiaobo dieses Gedicht:
Unter dem Fluch der Zeit sind fremder die Tage
An diesem Tag vor zehn Jahren der Morgen, ein Blutkleid die Sonne,
zerrissner Kalender alle Blicke verharren auf diesem einzigen Blatt.
Die Welt starrte in Trauer und Wut
Die Zeit erträgt keine Unschuld.
Die Toten wehren sich, schreien bis ihre Kehlen aus Lehm heiser werden.
In der Zelle, die Kette in Händen
einen Augenblick muss ich schrein aus Angst,
im nächsten ist keine Träne mehr da für das schuldlose Sterben
man muss mit dem Dolch kalt in die Augen fahren
muss mit Blindheit bezahlen für das schneehelle Gehirn
Erinnern saugt einem das Mark aus
Weigerung ist der einzige Weg das vollkommen zu sagen.
An diesem Tag zehn Jahre später bewachen gut ausgebildete Soldaten mit ernsten Standardgebärden die himmelschreiende Lüge
das Fünf-Sterne-Banner ist der Morgen der im Frühlicht flattert
man steht auf Zehenspitzen, reckt den Hals neugierig, erstaunt,
gläubig eine junge Mutter hebt die kleine Hand des Kinds in ihrem Arm der Lüge zum Gruß, die den Himmel verdeckt.
Eine andere Mutter mit weißem Haar küsst das Bild ihres Sohns, er ist tot
sie öffnete ihm Finger um Finger
säubert peinlich die Nägel vom Blut
sie findet kein Stückchen Erde in dem er ruhen kann
sie hat nur das Bild an der Wand.
Sie geht zu den Gräbern ohne Namen man soll das sehn,
die Lüge eines Jahrhunderts
aus zusammengeschnürter Kehle kratzt sie erstickte Namen
von der Polizei abgehört und verfolgt
macht sie ihre Freiheit und Würde zur Anklage gegen das Vergessen.
Der größte Platz dieser Welt ist längst saniert
Liu Bang kam aus den Klammen als Kaiser Han Gaozu
dass seine Mutter es trieb mit dem heiligen Drachen war für ihn des Ruhm seines Hauses
wie alt die Reinkarnationen vom Mausoleum zur Gedenkhalle stets werden
die Henker festlich bestattet in prunkvollen unterirdischen Palästen
über ein paar tausend Jahre Geschichte hinweg
diskutieren Tor und Tyrann die Weisheit der Bajonette
auf den Knien daneben, wen sie huldvoll begruben.
Noch ein paar Monate und hier ist ein Fest
die gut erhaltenen Leichen in der Gedächtnishalle
die Henker in ihren Kaiserträumen inspizieren gemeinsam die Mordinstrumente auf dem Tiananmen wie der Erste Kaiser im Grab seine unsterbliche Tonarmee.
(Aus dem Buch „Ich habe keine Feinde, ich kenne keinen Hass: Ausgewählte Schriften und Gedichte“, 2013, 416 Seiten, Fischer Taschenbuch. von Tienchi Martin-Liao (Herausgeber), Liu Xia (Herausgeber), Liu Xiaobo (Autor), Václav Havel(Einleitung), Hans Peter Hoffmann (Übersetzer), Karin Betz (Übersetzer)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour
Negativity Bias im Journalismus
Ist es wirklich so schlimm?
Künstler Mike Spike Froidl über Punk
„Das Ziellose, das ist doch Punk“
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an