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Neun Tote nach Polizeieinsatz in FavelaUnfall oder geplanter Mord?

In Brasilien starben am Wochenende neun Menschen bei einem Polizeieinsatz in einer Favela. Bewohner*innen halten das für einen Racheakt der Polizei.

Trauerfeier für den am Sonntag getöteten 16-jährigen Denys Quirino Foto: Nelson Antoine/ap

São Paulo taz | Die Rua Ernest Renan ist eine wuselige Straße mit kleinen Geschäften, Frisörsalons und evangelikalen Kirchen im Herzen der Favela Paraisópolis im Süden von São Paulo. Am Montag erinnert kaum noch etwas daran, was hier zwei Tage zuvor geschah. Nach einem Polizeieinsatz auf einer Baile-Funk-Party kam es am Samstagabend zu einer Massenpanik. Am Ende des Abends waren neun junge Menschen tot. Wie konnte es dazu kommen?

Die Polizei erklärte, dass sie zwei Verbrecher auf einem Motorrad verfolgt habe, mit denen es zuvor einen Schusswechsel gegeben habe. Die Kriminellen seien auf die Party geflüchtet, Partybesucher*innen hätten die Polizisten mit Steinen und Flaschen angegriffen. Mit Tränengas und Gummigeschossen löste die Polizei daraufhin die Party auf. Rund 5.000 Menschen feierten da auf den Straßen der Favela.

In einer engen Gasse starben sieben der neun Menschen, die an dem Abend ums Leben kamen. Am Montag erinnert nur noch ein mit roten Flecken bemaltes Holzkreuz an das Drama. Ein junger Mann, der anonym bleiben will, war am Samstag auf der Party, um Hotdogs zu verkaufen. „Die Polizei hat alle Straßen abgeriegelt und plötzlich angefangen, mit Tränengas und Gummigeschossen zu schießen“, sagt er und zieht sein T-Shirt hoch. Auf seinem Bauch hat er einen roten Abdruck eines Gummigeschosses.

„Ich glaube, dass die Polizei die Geschichte mit den Banditen erfunden hat. Der Einsatz war genau so geplant, da bin ich mir sicher“, sagt er. Auch andere Bewohner*innen glauben nicht an einen Unfall und sprechen von einem „Hinterhalt“ der Polizei.

Die Partys ziehen Menschen aus der ganzen Stadt an

Paraisópolis hat mehr als 100.000 Einwohner*innen und ist die zweitgrößte Favela der Megametropole. Die Favela befindet sich in unmittelbarer Nähe zu den reichsten Stadtteilen São Paulos. Hinter dem Meer aus roten Backsteinhäusern ragen die luxuriösen Wohntürme des Viertels Morumbi empor. Die pulsierenden Baile-Funk-Partys ziehen Menschen aus der ganzen Stadt an. Keines der neun Opfer stammte aus Paraisópolis, die meisten Toten waren aus anderen Favelas angereist.

Mehrere Bewohner*innen der Favela vermuten, dass der Einsatz am Samstag ein Racheakt für einen getöteten Polizisten war. Vor einem Monat starb in der Favela ein Polizist nach einem Schusswechsel mit Dealern. Polizisten hatten danach eine Welle des Terrors angekündigt. Mehrere Bewohner*innen der Favela berichten von willkürlichen Verhaftungen und Drohungen. Es wäre nicht das erste Mal, dass Polizisten den Tod eines Kollegen „rächen“.

In WhatsApp-Gruppen zirkulieren Audionachrichten von Polizisten, die dort erklären, dass „viel zu wenige“ Favela-Bewohner gestorben seien. Videos in sozialen Medien zeigen, wie Polizeibeamte Partybesucher*innen misshandeln. Sechs Polizist*innen wurden vorübergehend freigestellt, es wurden Ermittlungen eingeleitet.

Der rechte Gouverneur des Bundesstaates São Paulo, João Doria, verteidigte am Montag bei einer Pressekonferenz den Einsatz und erklärte, dass die Polizei nichts falsch gemacht habe. Das sieht Gilson Rodrigues, Präsident der Anwohnervereinigung, gegenüber der taz anders. „Die Polizei hätte niemals in dieser Weise gegen eine Party mit 5.000 Teilnehmern vorgehen dürfen. Die Aussagen des Gouverneurs sind falsch.“ Auch der Präsident der Menschenrechtsvereinigung der Landesregierung von São Paulo bezeichnete den Einsatz als „Massaker“.

Erdrückt, erstickt oder von der Polizei erschlagen?

Laut der Polizei starben die jungen Partybesucher*innen nach der Panik durch Ersticken und Zerquetschen. Der junge Hotdog-Verkäufer schließt allerdings nicht aus, dass sie ermordet wurden. „Ich habe gesehen, wie Polizisten die Leichen noch am Abend wegtrugen und den Tatort gründlich reinigten. Ich halte es nicht für unwahrscheinlich, dass einige von ihnen von den Polizisten erschlagen wurden.“ Laut Presseberichten glauben auch Angehörige von mehreren Opfern nicht an die Version der Polizei.

Auf einer Mauer vor einem kleinen Tonstudio sitzt Thiago Almeida. Der 16-Jährige mit Brille und Kreuz-Ohrring ist in der Favela als Rapper TH13 bekannt. „Genau solche Einsätze sind der Grund, warum wir Armen der Polizei nicht trauen und warum wir ohne Polizei sicherer leben.“

Aus Angst vor weiteren Operationen der Polizei sagte er eine für Sonntag geplante HipHop-Party in der Favela ab. Laut Almeida finden überall in der Stadt Baile-Funk-Partys statt. „In den Vierteln der Reichen läuft die gleiche Musik wie hier und die Kids nehmen die gleichen Drogen. Doch dort werden sie von der Polizei geschützt, während wir getötet werden.“

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