Neukölln-Untersuchungsausschuss: Naziterror als Bagatelle
Im Berliner Untersuchungsausschuss werden die ersten Zeug*innen gehört. Die Abgeordneten beklagen mangelnde Akteneinsicht.
Für sie und ihren Ehemann, der am Freitag ebenfalls im Untersuchungsausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses aussagt, war jedoch schon damals klar, dass die Lage ernst ist. „Wir haben uns immer gefragt: Was passiert als nächstes, wen werden die Nazis angreifen?“
Im Februar 2017 bestätigten sich ihre schlimmsten Befürchtungen, als mutmaßlich Neonazis ihr Auto vor ihrem Haus in Rudow abfackelten. Doch auch in diesem Fall habe die Polizei die Bedrohung heruntergespielt. „Es hieß, es habe keine Gefahr für Leib und Leben bestanden“, so von Gélieu. „Das mag sein, aber die Täter haben billigend in Kauf genommen, dass auch das Haus in Brand gesetzt wird“, ist die Publizistin überzeugt. Die Beamt*innen hätten den Fall jedoch wie eine ganz normale Sachbeschädigung behandelt. Ein Jahr später wurden die Ermittlungen dann ergebnislos eingestellt.
Die Abgeordneten haben viele Fragen an die 62-Jährige. Es wird schnell deutlich, wie wenig ernst die Polizei die rechten Bedrohungen nahm und wie unsauber ermittelt wurde. So wurde der Ehemann gar nicht erst befragt; stattdessen wurde er, ein Richter am Kammergericht, wegen einer Ermittlungspanne unter dem Phänomenbereich „politisch motivierte Kriminalität rechts“ nicht als Opfer, sondern als Täter geführt.
Claudia von Gélieu, Betroffene der rechten Terrorserie in Neukölln
Ignorante Polizei
Von Gélieu selbst wurde nach eigenen Angaben nur ein einziges Mal befragt – und das auch erst nach zwei Wochen, die Nachbar*innen sogar erst nach sechs Wochen. Ein Sicherheitsgespräch mit dem für politische Taten zuständigen Staatsschutz des LKA habe erst stattgefunden, nachdem ihr Ehemann ein Interview in der Abendschau des RBB gegeben habe. Wobei der Eindruck entstanden sei, dass die Beamt*innen die Ursache für die Bedrohungslage nicht etwa bei den Neonazis, sondern in dem Verhalten der Opfer sehen. „Die negativen Erfahrungen, die ich mit den Sicherheitsbehörden gemacht habe, machen mir genauso Angst, wie die Angriffe der Nazis selbst“, sagt Claudia von Gélieu am Freitag.
Hätten die Polizist*innen die Bedrohungen von Anfang an ernst genommen, den Seriencharakter der Anschläge erkannt und sauber ermittelt – wer weiß, ob es dann so weit gekommen wäre. 72 rechtsextreme Straftaten zählt die Polizei seit 2016 in Neukölln, darunter 23 Brandstiftungen. Aktivist*innen rechnen auch zwei ungeklärte Mordfälle zu der Serie.
Nachdem die Ermittlungsbehörden jahrelang keine Ergebnisse vorweisen konnten und stattdessen immer mehr Fehler und Skandale ihrer Arbeit bekannt wurden, wurde ein Untersuchungsausschuss ins Leben gerufen, der seit Juni dieses Jahres die Ermittlungsarbeit unter die Lupe nehmen soll.
Der Start des Untersuchungsausschusses, den Betroffene bereits seit vielen Jahren fordern, hatte sich verzögert, weil der Kandidat der AfD erst im dritten Anlauf eine Mehrheit erhielt. Auch Claudia von Gélieu fühlt sich sichtlich unwohl, dass sie einer Partei Auskunft erteilen muss, „die in den Neukölln-Komplex verwickelt ist“, wie sie sagt.
AfD nicht an Aufklärung interessiert
Dass die AfD nur wenig an Aufklärung interessiert ist, beweist am Freitag dann auch ihr Vertreter Antonin Brousek. Er versucht kontinuierlich, die Taten zu bagatellisieren, was bei den anderen Abgeordneten für hörbaren Unmut sorgte.
„Die Situation der Betroffenen vor Ort ist heute sehr deutlich geworden“, sagt der Ausschussvorsitzende Florian Dörstelmann (SPD) im Anschluss an die Befragung der ersten Zeugin. „Der Seriencharakter zeigte sich nicht erst 2016, sondern schon 2009“, so der Grünen-Politiker André Schulze. Neben dem Ehepaar Gélieu wird anschließend auch der Buchhändler Heinz Ostermann befragt, dem im Dezember 2016 die Scheiben seiner Buchhandlung in Rudow eingeworfen wurden; einen Monat später fackelten Unbekannte seinen Wagen vor seiner Haustür ab.
Bis mindestens Ende Oktober soll die Befragung der Betroffenen weitergehen, unter ihnen auch die Neuköllner SPD-Bezirksstadträtin Mirjam Blumenthal und der Linke-Abgeordnete Ferat Koçak, der zugleich stellvertretendes Mitglied des Untersuchungsausschusses ist.
Parallel läuft ein Prozess gegen verdächtige Neonazis
Koçaks Auto war Anfang 2018 mutmaßlich von Neonazis angezündet worden, wobei die Flammen nur mit Glück nicht auf sein Haus übergriffen. Die Sicherheitsbehörden wussten vor dem Anschlag, dass er im Visier von Neonazis stand, warnten ihn aber nicht. Für den Anschlag auf die Autos von Koçak und Ostermann müssen sich seit diesem Montag fünf Neonazis vor Gericht verantworten, unter ihnen die beiden stadtbekannten Rechtsextremisten Tilo P. und Sebastian T.
Kurz vor Prozessbeginn sorgten Recherchen des rbb für Aufregung, laut denen die Polizei beim Ausspähen eines linken Aktivisten Aufnahmen davon machten, wie Sebastian T., Tilo P. und ein weiterer Neonazi im März 2019 das Haus ihres politischen Gegners mit einer Drohung und Hakenkreuzen besprühten. Der zur Aufklärung der Neuköllner Terrorserie eigens eingesetzte BAO Fokus lag dieses Video offenbar vor, wurde aber ignoriert.
Akten kommen nur schleppend an
„Die Kritik an den Sicherheitsbehörden müssen wir systematisch aufnehmen, und dann die Verantwortlichen dazu befragen“, sagte am Freitag der Linke-Abgeordnete Niklas Schrader. Dazu müssten die Ausschuss-Mitglieder jedoch erst einmal die bereits vor Monaten angeforderten Akten einsehen können – was mit Verweis auf den laufenden Prozess bislang größtenteils verweigert wurde.
Das sorgt hinter den Kulissen insbesondere bei Grünen und Linken für deutlichen Unmut. Doch auch die CDU übte nach dem Ausschuss Kritik an der Informationslage. „Die Zulieferung verläuft etwas schleppend. Ich hätte mir gewünscht, dass wir mittlerweile mehr Material haben“, so der Abgeordnete Stephan Standfuß.
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