Prozess zur Neuköllner Terrorserie: Den Tätern in die Augen blicken

Der Prozess gegen die Hauptverdächtigen der rechtsextremen Anschlagsserie in Berlin-Neukölln läuft. Ein Urteil könnte es im November geben.

Ferat Kocak spricht in ein Mikrofon. Hinter ihm ist ein Transparent zu sehen

Ferat Kocak, wohl prominentestes Opfer der rechtsextremen Neuköllner Terrorserie Foto: M. Gelejewski/AdoraPress

BERLIN taz | Vor dem Beginn des Prozesses gegen die Hauptverdächtigen der seit 13 Jahren andauernden rechtsextremen Terrorserie mit mehr als 70 Straftaten in Berlin-Neukölln steht mit Ferat Koçak, Abgeordneter der Linken im Abgeordnetenhaus, eines der Opfer vorm Gebäude des Amtsgerichts Tiergarten. Der Aktivist und Politiker ist Teil einer kleinen Kundgebung und hält ein Transparent mit der Aufschrift „Rechten Terror stoppen“.

Im Gespräch mit der taz sagt Koçak, der auch stellvertretendes Mitglied eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses zur Anschlagsserie ist, dass er den angeklagten Nazis zeigen wolle, keine Angst zu haben: „Für mich ist es wichtig, ihnen einmal gegenüberzusitzen.“

Den Prozess – nach all den Jahren mit etwa 20 Brandstiftungen und Morddrohungen gegen viele, die sich im Bezirk demokratisch und antifaschistisch engagieren, mit eingeworfenen Scheiben, geklauten Stolpersteinen und auch mit zwei unaufgeklärten Mordfällen – bezeichnet Koçak in einer kurzen Rede als „Ergebnis des ­unnachgiebigen ­Aufklärungswillens aller Betroffenen“. Zwar ist der Täterkreis seit Langem bekannt, doch den Sicherheitsbehörden war es jahrelang nicht gelungen, belastendes Material für eine Pro­zess­eröff­nung vorzulegen.

Koçak selbst wurde am 1. Februar 2018 zum Opfer, als sein auf einem Carport geparktes Auto angezündet wurde und die Flammen nur mit Glück nicht auf sein Haus übergriffen. Dass er an diesem Montag als Nebenkläger am Prozess teilnehmen kann, war zuvor Gegenstand einer gerichtlichen Auseinandersetzung.

Nachdem Koçaks Antrag zunächst von der Vorsitzenden Richterin am Amtsgericht mit dem Hinweis abgelehnt wurde, dass bei ihm keine schweren Folgen der Tat festzustellen seien, ließ das Berliner Landgericht den Politiker am Freitag doch noch zu. Das Landgericht sah sehr wohl die Schwere der Tat – und die Möglichkeit, dass die Brandstiftung als versuchtes Tötungsdelikt gewertet werden könnte.

Drei Neoanzis auf der Anklagebank

Im Gerichtssaal trafen ­Koçak, nervös mit einem Stift spielend, und seine Anwältin dann auf die beiden mutmaßlichen Haupttäter Tilo P. und Sebastian T. sowie auf den Mitangeklagten Samuel B., der sich von Szeneanwalt Wolfram Nahrath verteidigen lässt. Ein weiterer Beschuldigter war nicht erschienen, das Verfahren gegen einen fünften wurde abgetrennt. Die Neonazikader P. und T., 39 und 36 Jahre alt, gaben sich gelassen, machten Angaben zur Person, sagten aber sonst nichts. Verantworten müssen sie sich für den Anschlag auf Koçak und für eine weitere Brandstiftung in derselben Nacht am Auto des Buchhändlers Heinz Ostermann.

Den Antrag ihrer Verteidigung, das Verfahren wegen der Anwesenheit Koçaks auszusetzen, lehnte die Richterin ab. Hinweise auf eine „versuchte Tötung“ jedoch verneinte sie. Verlesen werden konnte danach die aus drei Einzelanklagen zusammengesetzte Anklageschrift – mit dem Hauptvorwurf der Brandstiftungen. Hauptindiz war lange Zeit, das Koçak durch P. und T. ausgespäht wurde. Die Polizei wusste davon, ohne ihn zu warnen.

Im vergangenen November kam ein neues Indiz hinzu. Nach Angaben des Verfassungsschutzes hatte Tilo P. in Untersuchungshaft zu einem Gesinnungsgenossen gesagt, die Behörden wollten ihm „jetzt auch noch wegen den anderen Sachen was anhängen“ – dabei habe er doch „nur Schmiere“ gestanden. Die Ankläger gehen davon aus, dass mit „den anderen Sachen“ die Bandstiftungen gemeint sind.

Propagandadelikte und Drohungen

Vorgeworfen werden den beiden darüber hinaus diverse Propagandadelikte. Im Juli und August 2017 sollen sie, teils zusammen mit den drei anderen Angeklagten, an mehreren Dutzend Stellen Aufkleber und Schriftzüge mit Bezug auf eine angebliche Tötung des Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß angebracht haben.

Dazu kommen gesprühte Todesdrohungen an den Wohnadressen dreier An­ti­faschist:in­nen. Sebastian T. muss sich auch noch für einen Betrug verantworten, weil er als ALG-II-Bezieher weiter Miete für eine Wohnung, in der er nicht mehr wohnte, als Sozialleistung kassierte. Vorgeworfen wird ihm zudem der Betrug mit Coronahilfen.

Angesichts der vielen weiteren – auch schweren – Taten der Strafserie sind die Vorwürfe überschaubar. In Gang kamen die Ermittlungen erst, nachdem im Sommer 2020 die Berliner Generalstaatsanwaltschaft den Fall an sich gezogen hatte. Zuvor waren der für die Ermittlungen verantwortliche Oberstaatsanwalt sowie ein weiterer Staatsanwalt wegen des Verdachts auf Befangenheit zwangsversetzt worden.

Die Liste der Emittlungspannen ist laut einem neuen RBB-Bericht nun noch ein Kapitel länger. Demnach sollen polizeiliche Videoaufnahmen, die Sebastian T. im März 2019 beim Beschmieren des Hauses eines politischen Gegners zeigen, lange von den Ermittlern ignoriert worden sein.

Der Prozess wird am Mittwoch fortgesetzt, ein Urteil könnte im November fallen.

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