Neugestaltung der EU: Frischekur für Europa

Um ihrer Müdigkeit zu entkommen, braucht die EU eine neue Verfassung. Entscheidend ist, die Bür­ge­r*in­nen mit ins Boot zu nehmen.

Teilstück der EU-Flagge mit 3 Sternen

Dringend überholungsbedürftig: Die EU verliert an Zuspruch Foto: Nicolas Landemard/dpa

Es gibt Momente in der Geschichte, da öffnet sich ein Möglichkeitsfenster – 1990 sprach man vom wind of change. Heute gibt es erneut ein solches Fenster: 19 Jahre nach dem ersten Verfassungskonvent steht das Projekt einer Verfassung für eine neue Europäische Union erneut auf der Tagesordnung – die ersten Weichen sind bereits gestellt: Am 9. Mai endet die einjährige Konferenz zur Zukunft Europas.

In den Empfehlungen der durch das Los bestimmten Bürgerpanels stehen ein Verfassungskonvent für die EU, zahlreiche Vorschläge für eine Neugestaltung der EU als föderale Republik und weitere Reformen. Im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung wird ein Verfassungskonvent gefordert, der zu einem „föderalen dezentral organisierten Bundesstaat“ führen soll.

Frankreichs alter und neuer Präsident Emmanuel Macron hat sich für einen Verfassungskonvent ausgesprochen, ebenso die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Das EU-Parlament kann einen solchen Konvent einberufen. Dafür gibt es eine Mehrheit. Die alte Weisheit: „In der Krise wächst das Neue“, scheint sich erneut zu bewahrheiten.

Klare Mehrheit für Reform

Jetzt hat der Krieg in der Ukraine vielen Menschen, gerade auch in den östlichen EU-Staaten, deutlich gemacht, dass wir eine demokratische handlungsfähige EU brauchen. Es geht nicht länger um das Ob, sondern um das Wie und das Was: Damit das Projekt Erfolg hat und es gelingt, endlich das Vetorecht aller nationalen Regierungen im Europäischen Rat abzuschaffen, sollte der Konvent mit genügend Autorität ausgestattet werden.

Er sollte direkt von den Bür­ge­r*in­nen der EU gewählt werden, letztendlich geht es zentral darum, die Zivilgesellschaft und Bür­ge­r*in­nen stärker zu beteiligen. Die Abstimmung über die vom Konvent erarbeitete Verfassung sollte zudem in allen Staaten der EU stattfinden. Neben einer europaweiten Mehrheit der Abstimmenden müssen auch mindestens zwei Drittel der EU-Staaten mehrheitlich dafür stimmen.

Wird dies erreicht, tritt die Verfassung in den Ländern in Kraft, die mit einer Mehrheit dafür gestimmt haben. Die anderen Staaten könnten in einer neuen Volksabstimmung entscheiden, ob sie der nun neu gegründeten EU beitreten oder andere vertragliche Beziehungen aufnehmen wollen. Heute und gerade auch nach dem Brexit und dem Ukraine­krieg wird kaum jemand gegen eine Neugründung der EU stimmen.

Die Verfassung sollte ein handlungsfähiges Parlament mit allen Rechten festhalten. Das Projekt wird nur erfolgreich sein, wenn es gelingt, eine dezentral organisierte föderale, aber trotzdem in wichtigen Fragen handlungsfähige Vielvölkerdemokratie zu gestalten. Dazu wäre es gut, wenn die Verfassung auch Zielvorstellungen für die großen Politikbereiche enthielte.

Solche Verfassungsziele schaffen einen Werterahmen für alle Ebenen von den Kommunen bis zur EU-Ebene – können aber so dezentral wie möglich umgesetzt werden. Außerdem müssen die verschiedenen Verfassungsziele miteinander in Einklang gebracht werden. So sollte zum Beispiel die wirtschaftsliberale Wettbewerbspolitik künftig in einen gemeinwohlorientierten sozialen und ökologischen Rahmen eingebunden werden.

Von entscheidender Bedeutung ist, die Regierungslastigkeit der EU-Demokratie zu beenden. Deshalb die Forderung, den Rat durch einen direkt gewählten Senat zu ersetzen. Aus den Mitgliedsländern könnten je nach Größe jeweils vier bis zwölf Senatorinnen und Senatoren gewählt werden, sodass der Senat auch eine politische Pluralität abbildete. Im heutigen Rat dominieren zu sehr die Interessen der nationalen Regierungen, die sich gegenüber der jeweiligen Opposition in ihrem Land profilieren müssen.

Konsens nicht mehr zwingend

Ein direkt gewählter Senat repräsentierte hingegen nicht nur die Regierungsmehrheiten und könnte eher die Sichtweise der Regionen und Staaten mit einer europäischen Sichtweise verbinden. Denkbar wäre auch, dass zu bestimmten Themen nur ein Teil der Mitgliedstaaten eine gemeinsame Politik vereinbarte. In dem Fall würden auch nur die Abgeordneten dieser Staaten an der Abstimmung teilnehmen.

Einen grundlegenden Fehler gilt es zu vermeiden: die Direktwahl des Kommissionspräsidenten. Die USA, Russland oder Frankreich sind warnende Beispiele dafür, dass dies zur Personalisierung politischer Debatten und zur Spaltung der Bevölkerung beiträgt. Ebenso schwierig wäre das Verfahren, wonach der Spitzenkandidat der stärksten Fraktion die Kommission leitete. Auch eine klassische Mehrheitsregierung würde die öffentliche Meinung in Europa eher polarisieren.

Vorzuziehen wäre stattdessen eine Orientierung am Schweizer Konkordanzmodell, bei dem alle großen Parteien in der Regierung vertreten sind. Dazu könnte das Parlament die Mitglieder der Kommission mit qualifizierter Mehrheit (zum Beispiel Zweidrittelmehrheit) wählen, oder die Besetzung erfolgte aufgrund eines Vorschlagsrechts der Fraktionen nach d’Hondt. Die Zahl der Kommissionsmitglieder sollte dann auch von der Zahl der Ministerien abhängen und nicht mehr von der Zahl der Mitgliedsländer.

Last, not least sollte auch die direkte Bürgerbeteiligung ausgebaut werden. Das bisher einzige Instrument der Bürger*innen, um zwischen den Wahlen von unten ein Thema auf die europäische Agenda zu setzen, ist die Europäische Bürgerini­tia­tive (EBI) – die in den letzten Jahren erstaunlich konstruktiv und häufig genutzt wurde. Es liegt daher nahe, die EBI zu einem vollständigen direktdemokratischen Verfahren weiterzuentwickeln.

Oder man beginnt mit dem Recht, zu konkreten Themen durch Volksentscheid einen Konvent einzuberufen, wie es in der Urverfassung der Schweiz enthalten war. Denn der Erfolg der EU wird nicht unwesentlich davon abhängen, ob es gelingt, die Bür­ge­r*in­nen an der Demokratie auf allen Ebenen mehr als bisher zu beteiligen.

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ist Mitglied im Bundesvorstand des Vereins Mehr Demokratie e. V. Er war von 1996 bis 2009 Abgeordneter im Landtag in Schleswig-Holstein und Fraktionsvorsitzender während der rot-grünen Simonis-Regierung. 2019 erschien sein Buch „Demokratie für morgen“ (UVK Verlag).

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