Neues Album von Tyler, The Creator: Tyler, der Wandlungsfähige

„Call Me If You Get Lost“ heißt das neue Album von Tyler, The Creator. Der Provokateur gibt sich gewohnt schamlos, reflektiert sich aber auch selbst.

Tyler the Creator fliegt durchs Bild

Bei so einer Bühnenshow haut es auch ihn selbst schomal aus den Gucci-Socken Foto: reuters

Sich auf der Pritsche einer Yacht im Liegen mit französischer Eiscreme füttern zu lassen ist wohl doch angenehmer, als eine Kakerlake zu verspeisen. Dafür muss man zunächst etwas zurückspulen ins Jahr 2011, da erschien das Musikvideo zum Song „Yonkers“, in dem eine überdimensionierte Küchenschabe über den Arm des US-Rappers Tyler, The Creator krabbelt, bis er sie sich schließlich in den Mund schiebt.

Es war die Zeit, in der Odd Future, eine Gruppe von angstbefreiten, durchgedrehten Skatern aus Los Angeles, zu der Tyler, the Creator gehörte, damit begannen, wie wild HipHop zu veröffentlichen. Musikalisch verstörten ihre Darbietungen auf allen Ebenen, genauso irre klangen auch die Reime. Wegen der lyrisch vermittelten Gewalt, der Lust an Selbstzerstörung und der sperrigen Sounds wurde die Welt alsbald auf die Jungspunde aufmerksam.

Odd Future kamen zur rechten Zeit, um mit ihrem nicht immer heilsamen, aber umso wirkungsvolleren Schock dem eingestaubten US-Rap frische Impulse zu geben. Schließlich waren sie eine Talentschmiede, aus der Ikonen des Pop, wie R&B-Sänger Frank Ocean hervorgingen. Tyler, The Creator galt als Gehirn der Crew.Odd Future als Kollektiv existiert mittlerweile nur noch formal.

Im März 2021 ist Tyler, The Creator 30 geworden. Jetzt hat er ein neues Soloalbum veröffentlicht „Call Me If You Get Lost“. Und darauf enthalten ist auch der Song „Hot Wind Blows“, bei dem er Vanilleeis schleckt, um die Welt jetsettet und sich mit dem französischen Dichter Charles Baudelaire vergleicht. Dazu läuft im Hintergrund ein Loop mit einem delikaten Bläserarrangement, und die Stimme der Soulkünstlerin Penny Goodwin taucht als Sample auf. Ganz schön dekadent und ziemlich konventionell – aber nur auf den ersten Blick.

Das Spiel mit Ekel, Schmerz und dem Abnormen

Denn Tyler, The Creator hat in seiner Karriere und auch mit seinem neuen Album vieles richtig gemacht. Er hat verstanden, dass Provokation zwar Spaß macht und sich zu guter Kunst entwickeln kann, aber dass es auch noch andere Mittel gibt, um diese Kunst voranzubringen. Nach dem zweiten Mal Kotzen und Küchenschaben essen wird’s langweilig, weiß Tyler, und hat sich auf seinen letzten Alben deswegen immer weiter vom sperrigen Rap wegbewegt, ist sogar stellenweise zum sensiblen Sänger mutiert.

Tyler, the Creator: „Call me if you get lost“ (Columbia/Sony)

In den Lyrics hat er sich sogar mit seiner eigenen Queerness auseinandergesetzt. Das Abjekte ist zwar nach wie vor Teil seiner Musik, das kleine versteckte Spiel mit Ekel, Schmerz, mit dem Abnormen geht nun mehr im Gesamtsound auf. „Call Me If You Get Lost“ ist nun erneut Tylers Versuch, der künstlerischen Weiterentwicklung mit neuen Songs zu entsprechen, und das ist vor allem seiner Form geschuldet.

Das Album ist als Mixtape angelegt

Das Album ist angelegt wie ein Rap-Mixtape, das Anfang der zehner Jahre auf Websites wie datpiff.com zum kostenlosen Download angeboten wurde. Das Format Mixtape war oft nur eine skizzenhafte Werkschau auf dem Weg zum nächsten „richtigen“ Album. Oft boten diese Mixtapes aber auch nur billige Resteverwertung. Tyler hat sich das Format und dessen Wildwuchs angeeignet und in der Kunstform Album reinterpretiert. Heißt: Kein Song gleicht dem anderen, eine Stringenz im Sound ist nicht herauszuhören.

Rapfragmente auf Sample-Loop-Basis wechseln sich ab mit Proto-Trap-Sound, der klingt, wie im Atlanta Anfang der zehner Jahre. Zwischendrin blinken fett produzierte, opulente Songs auf, die an die Yacht-Rap-Era von Rick Ross und seine Produzenten J.U.S.T.I.C.E. League erinnern. Tyler, the Creator ehrt seine Helden und hat Spaß am Rappen, das scheint zumindest musikalisch die Intention von „Call Me If You Get Lost“ zu sein – und sie geht auf, weil sie nicht aufgesetzt wirkt.

Inhaltlich setzten sich die Texte außerdem mit dem eigenen Schaffen und der Feststellung auseinander, dass Provokationen und Schockmomente von früher nicht alle korrekt waren. Er distanziert sich zum Beispiel von misogynen Tweets gegen Selena Gomez von 2011, ein scheinbar schambehafteter Moment für ihn. Und er setzt sich mit Trennungen und deren Folgen auseinander. Die Schamlosigkeit von Tyler, The Creator hatte auf seinem ‚Grown Man‘-Mixtape-Album ein neues Level erreicht. Das schamlose Schocken ist nun einer schamlosen Selbstreflexion gewichen.

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