Neues Album von Owen Pallett: Der Mensch ist keine Insel
In „Island“ geht es um Queerness und soziale Isolation. Mit seinen Orchesterarrangements verbindet Pallett außerdem klassische Musik und Pop.
„Kein Mensch ist eine Insel“, postulierte der englische Dichter John Donne 1624. Manchmal fühlt es sich aber eben doch so an, als wäre man auf sich allein gestellt: auf einem Eiland. Dieses Gefühl beschwört auch das fünfte Album des kanadischen Komponisten Owen Pallett herauf: „Island“.
Vielleicht fühlt es sich in der Hilflosigkeit auch so an, als drehten „Fahrradreifen auf nassem Zement“ durch oder als rausche Blut um einen herum „wie eine Herde Phantompferde“ oder als wäre man ein „windleeres Segel, das auf dem Küchenboden kollabiert“. Mit solch kunstvollen Metaphern beschreibt Owen Pallett Depressionen auf „Island“, begleitet von sich selbst auf einer akustischen Gitarre, mit einem Fingerpicking, das an Nick Drakes Meisterwerk „Pink Moon“ (1972) erinnert.
Beizeiten gesellt sich ein Orchester hinzu, aufgenommen in den Abbey-Road-Studios: das London Contemporary Orchestra, das (wie übrigens Owen Pallett selbst) auch schon mit Frank Ocean gearbeitet hat, dem US-R&B-Superstar. Überhaupt dürften Owen Palletts Arbeiten vielen bekannt vorkommen, ohne dass sie es wussten: Palletts Soundtrack für das dystopische Science-Fiction-Drama „Her“ mit Scarlett Johansson war 2014 für den Oscar nominiert.
Künstler wie die britischen Pet Shop Boys und Arcade Fire aus Toronto schwören auf Palletts Orchester-Arrangements. Seit dem dritten Lebensjahr in klassischer Musik ausgebildet, spielt Pallett Violine und Bratsche. Die umfassenden orchestralen Skills kommen auch auf Palletts Soloalben zum Zuge, die Pallett mit extravaganten Arrangementideen versieht.
Popsongs wie Fertig-Mayonnaise
Was unterscheidet eigentlich ein schlechtes Streicher-Arrangement von einem genialen? Man könnte sagen, Owen Palletts Streicher sind wie eine frisch angerührte Vinaigrette, bei der alle Kräuter mit Bedacht gesät und in die Textur der Sauce eingerührt werden – wo handelsübliche Streicher-Arrangements in Popsongs eher wie Fertig-Mayonnaise aus dem Zehn-Liter-Eimer die Tracks zuklatschen.
Owen Pallett: „Island“ (Domino/GoodToGo)
Die Vinaigrette setzt dem Salat ein spannendes Kontra; die Massenmayo „intensiviert“ den Salatgeschmack bloß mit einem Overkill aus Fett, bis einem flau wird. Oder, etwas größer gedacht: Owen Palletts Streicher sind wie der Chor einer griechischen Tragödie – ein vielschichtiger Charakter, der interagiert.
Die Klangwelt auf „Island“, sie gleicht einer Insel, auf der Lewis gestrandet ist, wie in einer Robinsonade. Die Figur Lewis ist Pallett-Fans schon vom „Heartland“-Album (2010) bekannt. Dass Owen Pallett damals wie jetzt harte Sujets wie Trauma und Depression im queeren Kontext angeht, ist gesellschaftlich von Relevanz. Und kommt gerade sogar öfter vor.
Aber anders als bei Lady Gaga und ihrem aktuellen Album „Chromatica“ ächzt Palletts Musik nicht unter der Last von chartkompatiblem Schranztechno. Und anders als bei der sperrigen Electronica von Arca aus Venezuela ist Owen Palletts Musik wiederum sehr zugänglich: Die Melodien sind eingängig – wenn sie auch manchmal etwas verschlüsselt werden durch die poetischen Texte.
Drogenabhängigkeit, Hedonismus und Self-Care
Kritik an toxischer Maskulinität schimmert durch, etwa wenn die Mutter des lyrischen Ichs erzählt, die Tobsucht sei ein Mann, den sie hereingelassen habe. Auch Drogenabhängigkeit wird als Problem benannt. Und das Verwechseln von Hedonismus mit Self-Care. Die Komplexität bei Owen Pallett, wo die Queerness in der Form liegt – sie fischt, bei aller Meeresmetaphorik voller Riffe, nie nach Komplimenten.
Und doch läuft sie quer zum Mainstream: So arbeitet Owen Pallett oft mit Techniken der klassischen Musik: etwa Bitonalität – zwei Tonarten in einer –, wie sie sich im sinfonischen Werk von Claude Debussy findet. In einem Popsong taucht dies sonst eher selten auf. Palletts Akkorde dringen mitunter spektral auseinander. Doch geht Pallett nie mit der Kompositionskunst hausieren, sondern arbeitet immer songdienlich und inklusiv, will viele Hörer:innen mit seiner Musik erreichen.
Mit „Island“ hat Owen Pallett ein Opus magnum vorgelegt – nicht zuletzt auch, weil in den Songs Auswege aus der sozialen Isolation anklingen. Als soziale und politische Wesen können wir eben nicht dauerhaft Inseln bleiben.
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