Neuer Roman von Uwe Tellkamp: Gegenwartssuppe
Uwe Tellkamp legt eine Fortsetzung seines Erfolgs „Der Turm“ vor. Auf 900 Seiten pflügt „Der Schlaf in den Uhren“ durch die Zeit seit dem Mauerfall.
Literatur ist kein Ponyhof. Aber womöglich ein Refugium für Oktopusse?
Wie auf so vieles kommt der Schriftsteller Uwe Tellkamp in seinem neuen Roman „Der Schlaf in den Uhren“ auch auf solche Tiere zu sprechen. Auf Seite 220 verwandelt sich der Ich-Erzähler, die Geräusche in einem Haus wahrnehmend, gedanklich in diese Spezies: „… der Oktopus aber, der ich werden würde, hatte keine Knie, die seine Erkundungen behindern würden, mußte [sic!] er doch, ganz aus Sinneszellen bestehend, in alle Wohnungen des Hauses Wolfsstein, durch Rohre und Elektroleitungen, Mörtelfugen, Schlüssellöcher dringen können, in alle Wohnungen des Viertels, ja der ganzen Stadt“.
Eine Erzählung, die mit unabhängig voneinander wahrnehmenden Fangarmen die Fugen, Spalten und Abgründe der Gesellschaft abtastet, damit ist eine der erzählerischen Bewegungen, die dieser Roman vollzieht, tatsächlich ganz gut beschrieben. Doch es ist nicht die einzige Bewegung. (Das ß schreibt Tellkamp übrigens durchgehend nach alter Rechtschreibung.)
Etwa 100 Seiten später – 900 Seiten hat dieser lange, mäandernde, sich erst allmählich, wenn überhaupt, zu etwas Ganzem formende Roman insgesamt – tauchen wieder Oktopusse auf, diesmal in einem ganz anderen Zusammenhang. Wir sind da auf einer Housewarmingparty der besseren bundesrepublikanischen Gesellschaft, eine DJane macht Musik, man hält sich an den Weingläsern fest, der Erzähler kämpft mit Minderwertigkeitskomplexen, ein japanischer Starkoch bereitet das Essen – und in der Suppe, die gereicht wird, treiben Baby-Oktopusse: „Wenn ich umrührte, schienen die Ärmchen einander in Slow motion, wie der Filmemacher sagt, zuzuwinken.“
Uwe Tellkamp: „Der Schlaf in den Uhren“. Suhrkamp, Berlin 2022. 904 Seiten, 32 Euro
Einem Erzähler, der sich vorher noch mit diesen Tieren identifiziert hat, muss diese Suppe als Gipfel der Dekadenz erscheinen. Zugleich rührt Uwe Tellkamp in dieser Szene viel zusammen: Spitzenpolitik und Kulturbourgeoisie, Partytrends und Political Correctness als Smalltalkthema. Das ist ein gutes Beispiel für die zweite Bewegungsform dieses Romans. Beherzt pflügt er, die Wendung SUV-artig fällt einem ein, durch die Diskurse und Themen seit der Wiedervereinigung. Und statt zu tasten, fällt er dabei oft in einen karikierenden Stil.
Selbstgedichtetes Kinderlied
Es gibt noch eine dritte Bewegung: die des Anhaltens der Zeit. Das sind wiederum gelegentlich wie losgelassene, sogar sentimentalisch anrührende Szenen. So erfährt man einiges darüber, wie es war, in der späten DDR als Filmvorführer in einem Kino zu arbeiten. Das Handwerk des Vorführens von Zelluloid meint man nach diesen Szenen aus dem Effeff zu kennen, und man kann die gezeigten Filme – „Spur der Steine“ mit Manfred Krug, „Le samouraï“ mit Alain Delon – geradezu riechen.
In einer anderen Szene kommen Fabian Hoffmann, auf eine vertrackte Art der Ich-Erzähler des Romans, und seine Schwester Muriel in ihre Wohnung, nachdem ihre Eltern von der Stasi verhaftet wurden. Ihre Eltern hatten ihnen ein selbstgedichtetes Kinderlied beigebracht, das exakt die Anordnung der Möbelstücke in der Wohnung beschreibt, damit sie es feststellen können, wenn die Wohnung heimlich durchsucht worden ist. Einmal heißt es: „Sagt mir das Wohnzimmerlied auf, Kinder. Merkt euch: Wenn auch nur eine Linie, nur eine Verbindung nicht mehr stimmt, sind sie dagewesen.“ „Sie“, das ist die Stasi, klar.
Von dieser fast am Schluss des Buches stehenden Szene aus lässt sich rückgreifend sogar in gewisser Weise der gesamte komplizierte Roman begreifen. War der „Turm“, der Vorgängerroman, bei aller Gespreiztheit und Kunstanstrengung, schlicht auch ein Abschied von den kulturbürgerlichen Nischen der DDR-Gesellschaft, die mit dem zweiten deutschen Staat untergingen, so ist der „Schlaf in den Uhren“ jetzt, bei allen Verkünstelungen und allem In-Stimmen-Sprechen, irgendwo auch schlicht die Geschichte einer Ankunft in neuem, unbekanntem und, in der Romanrealität, unübersichtlich-feindlichem Terrain, dem unserer Gegenwart nämlich.
Jubiläum der Wiedervereinigung
Beschrieben wird, mit einigen Vorgriffen und Seitenbewegungen, die Zeit der Wende und der August 2015, in dem das 25-jährige Jubiläum der Wiedervereinigung vorbereitet wird. In dieser neuen Zeit stimmt für den Erzähler keine Linie und keine Verbindung. Deshalb das Tasten und das Zusammenrühren der Erzählinstanz: Sie kennt sich nicht aus und muss sich erst einen Reim auf ihre Wahrnehmungen machen.
So weit könnte man dem Roman sogar noch in die Fiktion folgen. Nur dass er zugleich auch neue, und zwar sehr eindeutige Linien und Verbindungen zieht, sie machen ihn dann doch überaus eng. Wenn man das Buch mit Abstand betrachtet, schnurren seine ausholenden Erzählbewegungen an dem Punkt zusammen, dass die Staatssicherheit nicht nur die Wiedervereinigung arrangiert hat, sondern im Geheimen – Bilder einer in einem Bergwerk arbeitenden Geheimbehörde werden breit ausgewalzt – auch die Geschichte der wiedervereinigten Bundesrepublik mindestens observiert, wenn nicht teilweise sogar lenkt.
Das ist natürlich politisch fragwürdig und nahe an einem Aluhutdenken, vor allem denkt man aber auch, dass es schade ist um die Oktopusse: Ihre Wahrnehmungsfähigkeit schwimmt, wenn man das Buch wieder zuklappt, in der Suppe dieser Verschwörungstheorie.
„Rechtsnationaler Käse“
Es gibt zum Erscheinen dieses Romans eine selbst längst fast romanhafte Vorgeschichte. Als Nachfolger des so erfolgreichen „Turms“ war das Buch vom Suhrkamp-Verlag mehrfach unter dem Arbeitstitel „Lava“ angekündigt und dann wieder zurückgezogen worden; öffentlich spekuliert wurde über – durchaus ja nachvollziehbare – Schwierigkeiten des Verlags mit dem 1968 geborenen Autor, der sich in Debatten in Pegida-Nähe positioniert, von „Meinungskorridoren“ geredet und die Geflüchteten des Jahres 2015 mit Überfremdungsideen zusammengebracht hat.
Die Diskussion mit seinem Autorenkollegen Durs Grünbein im Jahr 2018, in dem Tellkamp behauptete, 95 Prozent der Flüchtlinge „kommen her, um in unsere Sozialsysteme einzuwandern“, wird in dem neuen Roman selbst erwähnt: „noch immer meldet sich der T. mit kruden Thesen, den von Rechten sattsam bekannten Opfermythen, zu Wort. Unsere progressiven Kräfte haben damals die richtigen Worte gefunden und den rechtsnationalen Käse des T. entzaubert.“
Das ist eine hübsch höhnische Stelle, zeigt doch aber auch etwas von der Fragwürdigkeit der literarischen Konstruktion dieses Romans. Seine Grundidee – Fabian Hoffmann ist inzwischen vom Dissidentensohn zum Mitarbeiter der geheimen Sicherheitsbehörde geworden, in dessen Dienst er eine Chronik der 25 Jahre seit der Wiedervereinigung anfertigen soll – nutzt Uwe Tellkamp als Lizenz dazu, alles Mögliche in den Roman hineinzupacken. Das könnte man nun, alles in allem, als alternativen Gegenentwurf zu den tatsächlichen Ereignissen der Zeit seit 1990 werten, wenn denn gerade viele Szenen aus der Gegenwart nicht so oberflächlich geraten wären und man beim Lesen nicht so oft den Eindruck hätte, inmitten der oft beeindruckend gedrechselten Satzfolgen ständig die Ressentiments des Autors zu spüren.
Abarbeiten an Bürgerrechtlern
In den Passagen, die zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung spielen, arbeitet sich der Roman viel an den Bürgerrechtlern der damaligen Forums-Bewegung ab. Es kommt, das muss man ihm lassen, zu teilweise grandios gehässigen Passagen, wenn etwa bei einer internen Debatte der Bürgerrechtler die eigenen basisdemokratischen Grundsätze schon bei der Frage scheitern, wer denn jetzt mit Kaffeekochen dran ist, oder wenn, in einer anderen Szene, ein Schriftstellerdarsteller Oskar Brock auftaucht, der sich schnell als Günter Grass identifizieren lässt und dem Dozieren frönt: „Sie machten alles falsch, wenn Oskar Brock zu glauben war.“
Zu einem der Fangarme dieses Romans gehört das Schlüsselromanhafte, und polemisches Talent hat der Autor. Das Problem ist auch gar nicht, dass dieser Roman die einzelnen Szenen stark anschneidet und, anstatt einem Plot zu folgen, zwischen ihnen hin und her springt; mit ein wenig Mühe findet man sich schon zurecht und muss ja auch in der überbordenden Fantasie des Autors nicht jeder Abzweigung folgen.
Das Problem ist vielmehr, dass der Roman mit der Erfahrung der Wende und des damit einhergehenden Systemwechsels eigentlich ziemlich wenig anfangen kann, außer die eigenen Figuren denunzierend zu karikieren, sich ab und zu wie zur Erholung in die Vergangenheit zurückzuträumen und immer neue Hinweise auf die Oberflächlichkeit und Verderbtheit der Gegenwart aneinanderzureihen.
Ähnlichkeiten mit Merkel
Vollends scheitert er daran, die Mechanismen des gegenwärtigen Politsystem und des sie umgebenden medialen Komplexes zu beschreiben. Die Ereignisse des Flüchtlingssommers 2015 werden nach und nach abgearbeitet, gebündelt in einer Figur namens Anne Hoffmann, die viele Ähnlichkeiten mit Angela Merkel aufweist, das Wort „Mutti“ fällt häufiger. Einmal redet der Erzähler von dem Versuch, „etwas zu verstehen von dem, was vorging, von der Politik, die, so dachte ich, unser aller Leben bestimmte, weil sie es zu ordnen versuchte“.
So eine Durchleuchtung würde man tatsächlich gerne lesen, nur bleibt es in dem Roman in dieser Hinsicht bei Absichtserklärungen, und man nimmt aus der Lektüre den dringenden Eindruck mit, dass so eine Analyse des politisch-medialen Komplexes von einer literarischen Konstruktion, die bei geheimen unterirdischen Kräften landet, eben nicht zu leisten ist.
Es gibt während des Lesens – oft auch eher mühsamen Durcharbeitens – dieses Romans Momente, in denen einem eine Wendung einfallen kann, die die mentale Entwicklung der westdeutschen links-alternativen Alterskohorten in die westdeutsche Bundesrepublik der 70er und 80er Jahre beschreibt: Einwandern ins eigene Land. Auch den 68ern ist die Bundesrepublik ja lange fremd geblieben. Manchmal blitzt beim Lesen auf, dass dieser Roman auch ein Dokument des Einwanderns in die Gegenwart von rechts aus hätte sein können, indem er all die Fremdheitsgefühle und das Misstrauen durcharbeitet, die im Zuge des Mauerfalls entstanden sind.
Doch diese Momente des Aufblitzens vergehen auch schnell immer wieder. Tatsächlich herrscht nach dem Lesen der Eindruck vor, dass dieser Roman, anstatt sich auf sie einzulassen, sich von der Gegenwart literarisch eher abschottet. Aber vielleicht machen 900 Seiten dieser Tellkamp-Prosa sowieso auch einfach malle. Und vielleicht ist es auch schlicht so, dass dieser Roman zu zwitterhaft angelegt ist: zu sehr in sich fragwürdiger politischer Roman, um rein als literarischer Entwurf einer Gegenwelt mit ihren eigenen Ordnungsprinzipien gewürdigt werden zu können; und zu sehr Gegenweltentwurf, um als Gesellschaftsroman, welcher Ausrichtung auch immer, zu funktionieren.
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