Neuer Roman von Nina George: Flucht aus einem Frauenleben
Nina Georges Roman „Die Passantin“ ist ein hartes Buch, voller Wut über patriarchale Gewalt. Die Autorin beherrscht ihre Geschichte souverän.
Nach einem Dreh in Barcelona beschließt die gefeierte französische Filmdiva Jeanne Patou, ihr Leben zu beenden. Oder vielmehr, daraus zu verschwinden. Erst ist da nur ein plötzlicher Impuls: „Ich kann nicht. Ich will nicht. Ich will das nicht. Alles will ich nicht.“
Spontan schlüpft sie durch die Lücke zwischen zwei Baustellenplanen am Rand des Rollfelds. Da ist eine Tür zur Ankunftshalle. Und schließlich sitzt Jeanne Patou bei einem Glas Rotwein in der Markthalle La Boquería und erfährt, dass der Germanwings-Flug 4U9525 in den südfranzösischen Alpen abgestürzt ist, mitsamt 144 Passagieren. Die Gelegenheit ist perfekt.
„Die Passantin“ erzählt von einer verzweifelten Flucht aus einem Frauenleben, das hinter der Fassade aus Ruhm, Erfolg und Wohlstand einem SM-Studio gleicht: Ehemann Bernard kontrolliert Jeanne Patou. Er hat sie zur Filmdiva geformt, ihr die Rolle ihres Lebens auf den Leib geschrieben. Und diesen Leib kommentiert und verletzt er, wie es ihm beliebt.
Innerlich aufgegeben
Der glanzvollen Preisverleihung vor Publikum folgt zu Hause prompt die verbale Abwertung ihres „nuttenroten Fickmauls“ (falscher Lippenstift) oder ihrer Brüste, an Sonntagen gibt es Milchkaffee mit Zimt ans Bett – und hinterher Analsex. Und nach jeder Premiere, jedem Takshowauftritt filmt er sie heimlich beim Geschlechtsakt und verhökert die Filmchen im Internet.
Als sie davon erfährt, hat sich Jeanne Patou innerlich bereits aufgegeben. Sie ist ganz auf ihn ausgerichtet – eine „Satellitenantenne, die in Zeit und Raum hineinlauschte“. Immer bereit, etwas zu tun oder zu lassen, damit es ihm gut ging.
Nina George: „Die Passantin“. Kein und Aber, Zürich 2025. 320 Seiten, 26 Euro
Erst der offizielle Tod bietet der Frau, die nicht mehr Jeanne Patou sein will, die Chance, sich neu zu erfinden. Wenn sie es noch kann. Durch diesen schmerzhaften Selbstfindungsprozess voller unerwarteter Wendungen nimmt der Roman die Leserin mit; quer durch die Altstadt von Barcelona, in der sich die Polizei für eine Schlacht mit katalanischen Separatisten rüstet.
Und in ein Haus voller Frauen, die ebenfalls für die Welt verschwunden sind und die für die Protagonistin zur Ersatzfamilie werden: die von einem Fleischerhaken in der Schulter vernarbte ehemalige Metzgersgattin Lisann, die Blumenhändlerin Leyla, die ihr Mann in der Kloschüssel ertränken wollte, die Kellnerin Rachel, die schon mit elf vom Bruder „vermietet“ wurde. Und Tania, die früher Tananos hieß – alle werden sie von der ehemaligen Nonne Dona Marca unter einem digitalen Schutzschild versteckt: Fingierte Tode, falsche Berufe, neue Identitäten.
Den größtmöglichen Fehler begehen
In der Polizistin Nina findet die Frau, die einmal Jeanne war, schließlich eine Verbündete, die bereit ist, mit ihr den größtmöglichen Fehler zu begehen: ihrem ehemaligen Leben zu nahe zu kommen.
Nina George hat keine Erzählung einer zaghaften Selbstfindung geschrieben, sondern einen fulminanten, energiesprühenden Roman, der zwischen rasanten Plotwendungen immer auch poetische Momente einstreut. Es ist auch ein hartes Buch, in dem viel Wut über das Verhältnis der Geschlechter durchscheint, über patriarchale Gewalt.
Mitunter malt George die männliche Brutalität mit allzu dickem Pinsel aus, das fragile Innenleben ihrer Protagonistin droht mitunter von einer Fülle von Scheußlichkeiten an die Wand gespielt zu werden. Das gilt besonders für den Moment, in dem die Frauen des Hauses Gelegenheit bekommen, sich an einem Vergewaltiger zu rächen; hier steht das Buch auf der Kippe zum feministischen Rache-Splatter.
Die Komfortzone verlassen
Doch George überspringt diesen Abgrund erstaunlich leichtfüßig und leitet den Plot einem raffinierten Ende entgegen. Die Souveränität, mit der sie ihre zwischen mehreren Zeitebenen und Figurenperspektiven wechselnde Geschichte beherrscht, beeindruckt – umso mehr, wenn man weiß, dass Nina George mit Bestsellern wie „Das Lavendelzimmer“ oder „Das Bücherschiff“ bisher eher im schlichteren Fach unterwegs war.
Diese Komfortzone hat sie nun mit dem Wechsel zu dem kleinen Schweizer Verlag „Kein und Aber“ verlassen. Mit „Die Passantin“ beweist sie, dass ihre Erzählkunst auch dort trägt, wo es nicht nach Mittelmeer riecht, sondern nach Blut und Tränen.
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