Neuer Roman von Marie NDiaye: Wenn God zu Dog wird
Hart an der Grenze zum Unsagbaren: Die Autorin erzählt in ihrem Roman „Ladivine“ mit ausbalancierter Schrecklichkeit.
Sie hat für alle Verständnis, sogar für den Mörder. Und alle haben eine böse Grimasse, sogar die Kinder. In ihrem aktuellen Roman „Ladivine“ schreibt Marie NDiaye über alles zwischen Schuld und Freiheit, zwischen Angst und Selbstbewusstsein. Das Buch sirrt und summt nur so vor lauter Zwischentönen. Harmonisch klingt anders.
Ladivine arbeitet als Putzfrau. Doch das ist es nicht, wofür die Tochter sie verachtet. Malinka verachtet ihre Mutter dafür, dass sie sie wie eine Prinzessin behandelt, und dafür, dass ihre Haut weniger hell ist als die eigene, und dafür, dass sie nirgends dazugehört.
Das geht so weit, dass sie die Mutter verleugnet: „Das ist meine Dienerin“, sagt sie, als Ladivine sie von der Schule abholen kommt. Und so behandelt die Tochter sie auch. Bis sich das Verbrechen in einen Fluch auswächst.
Malinka zieht nach Bordeaux, beginnt zu kellnern und nennt sich Clarisse. Nach der Hochzeit klingt ihr Name vollends französisch: jetzt ist sie Clarisse Rivière, und niemand darf von ihrer Herkunft erfahren.
Marie NDiaye: „Ladivine“. Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer. Suhrkamp, Berlin 2014, 444 Seiten, 22,95 Euro.
Dann bekommt sie eine Tochter – und gibt ihr den Namen Ladivine. Hartnäckig verheimlicht sie die beiden Ladivines voreinander. Durch das sture Verschweigen verwandelt sich Clarisse mehr und mehr in eine Leerstelle.
Ein räudiger Hund als Metapher
Ladivine bedeutet „die Göttliche“. Eigentlich vergöttert wird aber nur Clarisse. Sogar von ihrem Exmann Richard. Um die „wahre Clarisse“ zu finden, hat er noch einmal eine Clarisse geheiratet. Die Geschichten verdoppeln und verschlingen sich. Die zweite Ladivine nennt ihre Tochter Annika – ein assonanter Reim auf Malinka.
Und dann ist da noch dieser Hund. In unterschiedlichen Situationen taucht ein räudiger Wolfshund auf. Mal rettet er das Baby Ladivine vor dem Ersticken, mal springt er dem Schwiegervater an die Gurgel. Mal hat er die Augen von Clarisse, mal träumt Ladivine, sie sei im Schlaf gerannt wie ein Hund. Dann wartet der Wolfshund vor dem Hotel. Und Ladivine weiß nicht, ob er sie beschützt oder bedroht.
Niemand wurde so oft Fußballweltmeister wie Brasilien. Wie Minister, Konzerne und Aktivistinnen diesen Mythos benutzen, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 7./8. Juni 2014. Außerdem: Sechs Kinder und Jugendliche aus Syrien erzählen, wie es ihnen in Flüchtlingslagern im Libanon ergeht. Und: Was der Hausmeister und die Hausdame der legendären Sportschule von Malente über Franz Beckenbauer und Lothar Matthäus wissen. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Diese Szene sei der zündende Moment für das Buch gewesen, sagt Marie NDiaye während der Lesung des Romans im Literarischen Colloquium Berlin. Die Autorin Ursula Krechel moderiert und fragt lauter kluge Sachen. Sie kennt sich aus mit Unzugehörigkeit.
Tatsächlich, und obwohl NDiaye weder an Magie glaubt noch Krechels Roman „Das Landgericht“ gelesen hat, schleicht sich auch an diesem Abend eine Dopplung ein: Die Protagonisten der beiden Autorinnen tragen die gleichen Namen. Krechel kennt Virginia Woolfs „Mrs. Dalloway“, in der die Protagonisten ebenfalls Clarissa und Richard heißen. Marie NDiaye lächelt nur geheimnisvoll und fragt: „Woher kommen die Zufälle?“
Auch Berlin spielt eine Rolle
Wahrscheinlich ist auch das reiner Zufall, aber viele der Beschreibungen, die NDiaye für ihre Protagonistin Malinka/Clarisse verwendet, treffen auf sie selber zu. Beide haben ein „ebenmäßiges und ungezwungenes Gesicht“, beide sind irgendwie distanziert. NDiaye spricht und liest überlegt, bedacht, ernst.
Deshalb überrascht es jedes Mal, wenn sie doch etwas Komisches sagt. Sie thront. Zu Recht: denn vor dreißig Jahren veröffentlichte sie als 18-Jährige ihren ersten Roman, 2009 bekam sie für „Drei starke Frauen“ den Prix Goncourt, „Ladivine“ ist ihr vierzehntes Buch.
Als sie zu ihrem Schreiben befragt wird, fragt sie philosophisch zurück: „Wie kann man sich selbst sein, ohne zu sehr sich selbst zu sein?“ Die Autorin ist 1967 in Frankreich geboren. Ihr Vater war Senegalese, sie selbst ist „zu hundert Prozent“ Französin. Seit 2007 wohnt sie mit ihrem Mann und drei Kindern in dem „sprachlichen Exil“ Berlin-Charlottenburg.
Auch im Buch spielt Berlin eine Rolle. In der Uhrenabteilung des Kaufhauses Karstadt am Hermannplatz lernt Ladivine ihren Mann kennen, später kleben ihre Sandalen in Wilmersdorf auf den Lindenblüten. Aber dann mischen sich die Ausdünstungen der Blumen in Ladivines Kopf mit dem Geruch des Blutes ihrer Mutter.
Seelische Traumata und Rassismen
Es ist ein grausames Buch, Krechel spricht von „ausbalancierter Schrecklichkeit“. NDiaye schreibt viele Sätze, die hart an der Grenze zum Unsagbaren liegen. Um über diese Grenze hinauszugehen und auch das unaussprechlich Schreckliche – Morde, seelische Traumata und Rassismen – angemessen beschreiben zu können, verwendet sie mythische Bilder. Ähnlich wie in Ovids „Metamorphosen“ verwandelt sich Ladivine eines Tages in den Hund.
Das ist kein Spoiler; mit solchen magischen Momenten muss man bei dieser Autorin rechnen. Die Göttliche verwandelt sich also in die Tierische, God wird zu Dog und andersherum. Und irgendwo genau dazwischen befindet sich der Mensch. Mit all seinen inneren Höllen und den Höllen zwischen den Menschen, die NDiaye so meisterhaft beschreibt.
Ernst wird man davon und voller Respekt für die Dramen der Einzelnen. Es ist ein tiefgründiges Erschauern.
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