Neuer Roman „Air“ von Christian Kracht: Unter Helden
Christian Kracht entwirft in „Air“ eine fantastische Architektur am Rande des Eismeers. Sein Ausflug in die Autofiktion scheint damit abgeschlossen.

Ikonische erste Sätze kann Kracht, und er hat es wieder getan: „Das Leben war voller Sorgen, aber auch nicht wirklich“ bringt das Lebensgefühl unserer schwierigen Gegenwart einmal mehr auf den Punkt, mit dem leicht jargonhaften Anglizismus im Nachklapp. Der Doppelsinn geht einem erst später auf. Mitte der Neunziger war es der erste Satz von „Faserland“, der mit Vokabeln wie Fisch-Gosch und Jever die Pop-Literatur eingeleitet hatte, als Antidot gegen eine vermeintliche Hochliteratur, die sich mit heideggersch-vormodernen Dingwelten, Sauerteigbrot, Großmüttern und andersgelben Nudelnestern wertig und zeitlos wähnte. Dabei war das echte Kernige schon damals viel besser in dem pseudomittelalterlichen Welten der Fantasy aufgehoben – ganz ohne Anspruch auf erhöhte Literarizität.
„Air“ liest sich wie ein Metakommentar zu dieser Konstellation. Da ist der Inneneinrichter Paul, der Lost Places zu Luxusimmobilien mit nordischem Flair umdesignt, mit viel Holz, Glas, Fell und Naturstein. Natürlich weiß er selbst, dass er eigentlich nicht auf die Orkneys gehört, dass der wahre Nordmann Kia Diesel fährt und Goretex trägt und nicht, wie er selbst, die „authentischen Schafwollpullover“ wie „aus dem Film mit Colin Farrell neulich“. Ihm ist klar, dass seine Manufactum-Ästhetik „das als begehrenswert abbildete, was die Moderne selbst vorher zerstört hatte“, nur um es im Postkapitalismus neu „als Ware anbieten zu können, allerdings zum hundertfachen Preis“. Um mit Cohen, dem Herausgeber eines exklusiven Designmagazins, das Paul schätzt, zu sprechen: „Das war alles so erbärmlich, aber das Gegenteil war natürlich noch viel schlimmer.“ An diesem ästhetisch-ethischen Dilemma arbeitet sich der Roman ab.
Das ist zum Teil sehr lustig. Wo sich Krachts Text auf der Suche nach dem nordisch-simplen Stil der Knausgård-Parodie nähert, stehen dessen Bücher eine Seite später auch prompt im Schaufenster. Zugleich wird die Lektüre durch erste Glitches irritiert, und auf einmal laufen Paul und später auch Cohen durch eine Fantasy-Welt, wo sie die einfachen Dinge in ihrer natürlichen (Genre-)Umgebung wiederfinden, die Bauernschuhe, steinernen Krüge mit kaltem, klarem Wasser, Reisigbesen und rohen Fisch („Es war alles echt.“). Pauls Designideen verwandeln sich in die fantastische Architektur eines mythischen Naturvolkes am Rande des Eismeers. Ein Albatros erscheint, Poes „Arthur Gordon Pym“, Coleridges „The Ancient Mariner“ und Spielbergs „AI“ lassen grüßen.
In einem Strom toter Soldaten
Und was soll ich sagen? Man liest das wirklich gern. Die bewährte Heldenreisestruktur mit ihren Helferfiguren, treuen Tieren und weisen Alten – man kann sie in noch so dicke Anführungszeichen setzen, sie schlägt uns doch immer aufs Neue zuverlässig in ihren Bann. Anders als die Sorgen des modernen Lebens lassen sich die Hindernisse hier noch mit persönlichem Einsatz beseitigen. Feinde wie der fiese Herzog und seine Schergen, die sich das ehrliche Nordland aneignen wollen, werden einfach vernichtet, wobei Medizin und eine Plastikwaffe aus dem 3D-Drucker, die Paul noch im Beutel hat, gute Dienste leisten („Er hatte genug vom Töten, wirklich, aber es ging nicht anders.“). So treibt das Schiff des Herzogs irgendwann in einem Strom toter Soldaten – ein intensives Bild, an das sich jeder erinnern dürfte, der je Ingmar Bergmans Film „Skammen“ („Schande“) gesehen hat.
Christian Kracht: „Air“. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2025, 224 Seiten, 25 Euro
Aber Moment mal – Bergman? Der schwedische Regisseur war doch Teil eines Auftrags, den Paul in der anderen Welt gerade abgelehnt hatte, um stattdessen das ideale Weiß für einen riesigen norwegischen Datenspeicher zu finden – the road not taken sozusagen. So glitcht in „Air“ die eine Wirklichkeitsebene immer wieder in die andere und umgekehrt; sie bleiben anders, aber in ähnlich intrikater Weise aufeinander bezogen wie die beiden Erzählstränge in Wolf Haas’ „Wackelkontakt“, der mit Krachts Roman um den Preis der Leipziger Buchmesse konkurriert. Zwei der besten deutschsprachigen Prosaautoren kehren offenbar gerade von ihren erfolgreichen Versuchen in Autofiktion („Eigentum“, „Eurotrash“) zu den Grundfragen fiktionalen Erzählens zurück. Und wie immer bei Kracht gibt es dabei eine Vielzahl an Anspielungen, Querverweisen und kalkulierten Ungereimtheiten; man wird auch dieses Buch von Zeit zu Zeit wieder lesen wollen, um zu sehen, was es wirklich ist.
Die Heldenreise jedenfalls nimmt nach dem Sieg über den Herzog eine doppelte, durchaus gegenläufige Wendung. Zum einen kann das Eismeervolk jetzt in fruchtbarere Gefilde zurückkehren, was auf der Metaebene die Abwendung vom Arktisch-Kargen hin zu einer Ästhetik des Bunten und des Überflusses bedeutet. Paul sieht das mit gemischten Gefühlen: „Schnell würden sich die Menschen daran gewöhnen, keinen Seetang mehr zu essen, sondern Maulbeeren und gebratene Vogeleier mit Pilzen, und obwohl es ihm um ihre reinliche Zivilisation leidtat, war es auch gut so und richtig.“ Richtig ist es schon deshalb, weil die puristische „Nordobsession“ längst als neurechte Reinheitsideologie eine politisch dubiose Karriere macht, etwa im Rodismus der „slawischen Neuheiden“. Am Ende scheinen Nord und Süd die Seiten zu wechseln, und Krachts Roman erlaubt sich in diesem Zusammenhang einige Sätze reiner Idyllik, die vielleicht genau an dieser Stelle stehen können und sonst in Gegenwartsliteratur nirgends wieder.
Das Gemälde eines Präraffaeliten
Zum anderen aber bleibt der Weg in die Genrewelten der Fantasy nicht folgenlos; man wandelt halt nicht ungestraft unter Helden. „Ildr, merkst du es auch?“, fragt Paul seine treue Begleiterin, ein kluges Kind von neun Jahren. „Es wird alles immer flacher.“ Der Text nimmt das wörtlich, und so verwandeln sich Paul und Cohen zusehends in ein Gemälde, das Paul einst von einem Herzog (!) für seinen ersten innenarchitektonischen Coup erhalten hatte. Es handelt sich dabei um „Merlin und Lanzelot“ (1871) von James Archer, einem schottischen Maler aus dem Umfeld der Präraffaeliten. Das ist jene Malschule, die sich aus den unübersichtlichen Zusammenhängen der Moderne in ein fantastisches Mittelalter zurücksehnte, noch bevor diese Moderne überhaupt richtig begonnen hatte.
„Es war alles echt“ – zumindest für das ästhetische Dilemma, das der Roman verhandelt, stimmt das. Es setzt sich fort bis in die liebevolle Buchgestaltung, die mit einem Umschlagmotiv von Odd Nerdrum („The Black Cloud“, 1987) und Tundravegetation auf dem Vorsatzblatt der kargen Nordromantik frönt und dabei auf Krachts literarische Anfänge mit „Mesopotamia“ (1999) zurückverweist.
Die Klappeninformation zum Autor jedoch beschränkt sich auf die Feststellung, Kracht zähle „zu den modernen deutschsprachigen Schriftstellern“. Und das lässt sich nach Lektüre des Romans, bei allem Grauen vor „dieser Welt aus beschämender Distanzlosigkeit, Instagram und den Schrecknissen einer vernakulären Architektur“, denn doch als ein Statement lesen, es auch im Ästhetischen mit den komplexen, vermischten und sorgenbehafteten Realitäten der Gegenwart aufzunehmen.
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