Neue Volkslieder in der Ukraine: Die eigene Stimme wiederfinden
Seit Beginn des Kriegs haben Musiker in der Ukraine neue Lieder geschrieben. Diese verdrängen die englischen und russischen Songs aus den Charts.
A ls mir mein Großvater Fedos einmal von seiner Kindheit in der Zeit des Zweiten Weltkriegs erzählte, erwähnte er einen interessanten Aspekt: Obwohl Millionen von Ukrainern in den Reihen der Sowjetarmee gekämpft und die Nazis aus der Ukraine verjagt hatten, gibt es darüber kein einziges Volkslied. Dabei sind die Ukrainer ein sehr sangesfreudiges Volk.
Чтобы как можно больше людей смогли прочитать о последствиях войны в Украине, taz также опубликовал этот текст на русском языке: here.
Seine gesamte Geschichte – Kosakenzüge, Bauernaufstände, der Kampf für die Unabhängigkeit im Verlauf des 20. Jahrhunderts – spiegelt sich auch in entsprechenden Liedern wider. Aber alle bekannten Lieder über den Zweiten Weltkrieg gab es nur in russischer Sprache. Es schien, als habe ein ganzes Volk seine Stimme verloren.
Dabei lässt sich das leicht erklären. Denn das Herz des Volkes war schon unter Stalin während des Holodomor, der großen Hungersnot von 1932/33, vernichtet, Hunderttausende Ukrainer waren in sibirische Lager verschleppt worden.
Und die Elite der ukrainischsprachigen Intelligenz der 1920er und 1930er Jahre, Dichter, Theaterleute und Künstler – bekannt als „die hingerichtete Renaissance“ – waren 1937 zu Tode gequält worden. Für diejenigen, die davon verschont blieben, wurden unbedingter Gehorsam gegenüber einem repressiven Staat und die russische Sprache quasi die Eintrittskarte zum Leben. Russisch wurde zur Lingua franca der Ukraine.
ist 33 Jahre alt, Journalist, Dolmetscher sowie Experte für Politik und Wirtschaft. Er lebt und arbeitet in Lwiw.
Musik zur Beruhigung
Lieder spiegeln immer echte Gefühle wider – aber für die war in der Sowjetunion kein Platz. Ganz anders die Situation zu Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine: Lieder wurden sofort die Stimme des ukrainischen Widerstands und der Empörung. Als mir in den ersten Wochen vor lauter Schreck fast das Herz aus der Brust sprang, beruhigte mich das bekannte ukrainische Lied: „Oh, roter Schneeballstrauch auf der Wiese“. Es wurde vor mehr als hundert Jahren nach Motiven eines Kosakenlieds aus dem 17. Jahrhundert geschrieben, handelt vom Unglück der Ukraine und vergleicht sie mit einem geknickten „roten Schneeballstrauch“, einem der Symbole des Landes.
Das Lied verspricht, dass die Ukrainer alles tun werden, um den Schneeballstrauch, also die Ukraine, wieder „aufzurichten“ und „aufzumuntern“. Der Erste, der dieses Lied neu interpretierte, war der bekannte Sänger Andrij Chlivnjuk von der Gruppe Boombox, der wie viele andere Künstler mit dem Kriegsbeginn das Mikrofon gegen eine Waffe eingetauscht hat. In verschiedenen Fassungen, darunter eine Bearbeitung von Pink Floyd, kann man das Lied auf YouTube, im Radio und durch viele geöffnete Autofenster hören.
Jetzt gibt es Hunderte verschiedener Interpreten, die eigene Lieder über die aktuellen Ereignisse machen. Zum ersten Mal seit vielen Jahren haben sie englisch- und russischsprachige Lieder von den ersten Plätzen der Charts verdrängt. Die Ukrainer haben ihre Stimme wiedergefunden.
Aus dem Russischen Gaby Coldewey
Finanziert wird das Projekt von der taz Panter-Stiftung.
Einen Sammelband mit den Tagebüchern bringt der Verlag edition.fotoTAPETA im September heraus.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Stellenabbau bei Thyssenkrupp
Kommen jetzt die stahlharten Zeiten?
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich