Neue Studie zu Antisemitismus in Europa: Ein „ständiger Begleiter“
Schon vor dem 7. Oktober nahm der Antisemitismus in Europa zu. Das zeigt eine Studie, für die 8.000 Juden*Jüdinnen in 13 Ländern befragt wurden.
Studienautorin Angelika Grabher-Wusche spricht von Antisemitismus als „Lebensrealität und ständigem Begleiter.“ Zwischen Januar und Juni letzten Jahres befragten sie und ihr Team insgesamt 8.000 Juden*Jüdinnen aus 13 EU-Staaten, in denen der Großteil der jüdischen Bevölkerung Europas lebt. Abgesehen vom Anteil derjenigen, die antisemitische Belästigung und Angriffe erlebt haben, entsprachen die Zahlen aus Deutschland etwa dem EU-Durchschnitt.
Und der ist erschreckend: Rund 80 Prozent der Befragten sahen demnach eine Zunahme des Antisemitismus in den vorangegangenen fünf Jahren. Fast alle waren mit Antisemitismus auch konkret konfrontiert, besonders oft im Internet. Etwa 60 Prozent gaben an, im vorangegangenen Jahr auch Antisemitismus durch Bekannte erlebt zu haben.
Die Betroffenen berichteten von Täter*innen sowohl aus dem islamistischen, als auch dem rechts-, dem links- oder dem christlich-extremistischen Spektrum. Grabher-Wusche sagt: „Antisemitismus ist eine multidimensionale Erfahrung“. Teils, aber keineswegs immer spiele Israel eine Rolle bei den Vorfällen.
Mehr Geld für Sicherheit
Die Folge war schon damals ein enormes Bedrohungsgefühl EU-weit: Über die Hälfte der Befragten gab an, sich Sorgen um die eigene Sicherheit oder die der Familie zu machen. Drei Viertel sagten, sie versteckten zeitweise ihre jüdische Identität aus Angst, rund 35 Prozent gaben an, jüdische Veranstaltungen und Einrichtungen wie etwa Synagogen zu meiden.
Und seit dem 7. Oktober? Dazu geht aus der Befragung selbst nichts hervor. Angelika Grabher-Wusche und ihr Team berichten aber aus weiteren Gesprächen mit jüdischen Verbänden seitdem: „Die Intensität und die Anzahl der Übergriffe hat sich deutlich erhöht.“
Das zeigt sich auch in anderen Antisemitismus-Statistiken, die in jüngster Zeit erschienen. Der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) hatte 2023 doppelt so viele Vorfälle in Deutschland registriert, wie im Vorjahr. Der Großteil entfiel dabei auf die Zeit ab dem 7. Oktober. Auch Zahlen des Bundeskriminalamts (BKA) weisen in diese Richtung: So registrierte die Polizei allein in den ersten elf Tagen nach dem Hamas-Angriff über 500 antisemitische Straftaten, noch einmal so viele kamen bis zum Jahresende hinzu.
Grabher-Wusche und ihre Co-Autor*innen fordern von den nationalen Regierungen, deutlich mehr für die Sicherheit der Juden*Jüdinnen und ihrer Einrichtungen zu tun. Es brauche mehr Geld für Aktionspläne gegen Antisemitismus und konkrete Evaluierungsmechanismen der bestehenden Projekte. Online-Plattformen müssten zudem konsequenter verpflichtet werden, Hass-Posts zu entfern und zu melden.
Schließlich müssten Juden*Jüdinnen selbst über Möglichkeiten aufgeklärt werden, antisemitische Vorfälle zu melden und Anzeige zu erheben. Das sei auch wichtig, um verlässlichere Statistiken über den Umfang des Problems zu ermöglichen, was wiederum Grundlage für den Kampf gegen Antisemitismus sei.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Christian Lindner
Die libertären Posterboys
Außenministerin zu Besuch in China
Auf unmöglicher Mission in Peking
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Olaf Scholz’ erfolglose Ukrainepolitik
Friedenskanzler? Wäre schön gewesen!
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Rücktrittsforderungen gegen Lindner
Der FDP-Chef wünscht sich Disruption