Neue Linksfraktionschefs Helm und Schatz: Mit Gegenwind ins Amt
Die Berliner Linksfraktion hat mit Anne Helm und Carsten Schatz neue Fraktionschefs gewählt. Ihr inhaltliches Angebot stößt nicht nur auf Zustimmung.
Lange hatte es so ausgesehen, als gäbe es zwar Kritik an dem Verfahren – der Nominierung der Wunschnachfolger ohne vorherige Debatte in der Fraktion – nicht aber, als fände sich ein personelles Gegenangebot. Auch die Parteivorsitzende Katina Schubert hatte sich wenig begeistert gezeigt, eine eigenen Kandidatur aber abgelehnt. In die Offensive ging schließlich an Pfingsten Franziska Brychcy, Sprecherin für berufliche Bildung und Bezirkschefin aus Steglitz-Zehlendorf. Hinter der vor allem in den West-Bezirken gut vernetzten Brychcy, die öffentlich jedoch wenig bekannt ist, sammelten sich jene in der Fraktion, die auch inhaltlich mit dem Duo Helm/Schatz ihre Bauchschmerzen haben.
Nun werden sie sich arrangieren müssen: Auf Schatz, der schon in den 1990er Jahren in der PDS aktiv war und sich in der Fraktion bislang um Europa- und Bundesangelegenheiten kümmerte, entfielen 21 von 27 Stimmen; einen Gegenkandidaten hatte er nicht. Der Bezirksvorsitzende von Treptow-Köpenick gilt intern als Strippenzieher, war lange Geschäftsführer der Landespartei und ist ein Reformer, der auch in der SPD nicht für Schrecken sorgen dürfte. Er ist Deutschlands erster Parlamentarier, der seine HIV-Infektion nicht verschweigt.
Anne Helm, bislang Sprecherin für Medien und Strategien gegen Rechts, kann nicht annähernd auf so eine Parteikarriere zurückblicken, ist aber öffentlich viel bekannter, auch durch einen Protest anlässlich des Jahrestages der Bombardierung Dresdens 2014, als sie auf ihrem entblößten Oberkörper die Parole „Thanks. Bomber Harris do it again“ präsentierte. Als ehemaliges Mitglied der Piratenpartei trat sie erst 2016 in Die Linke ein und zog wenig später, ohne Unterstützung durch ihren Neuköllner Bezirksverband ins Abgeordnetenhaus ein. Sie setzte sich mit 16 zu 9 Stimmen bei 2 Enthaltungen gegen Brychcy durch. Zumindest für Helm gilt: Groß ist dieser Rückenwind nicht.
Herausforderung Coronakrise
Dabei stehen die neuen Chefs vor schwierigen Zeiten. Die Auswirkungen der Coronakrise auf die wirtschaftliche, finanzielle und soziale Entwicklung der Stadt werden in den kommenden Monaten voll durchschlagen. Auseinandersetzungen darüber, wo noch Geld ausgegeben werden kann, wie sie angesichts voller Kassen in den vergangenen Jahre geführt wurden, werden solchen um Sparmaßnahmen weichen. Während die Koalitionspartner SPD und Grüne mit erfahrenen PolitikerInnen in diesen Themenfeldern aufwarten, kann dies für Schatz und Helm nicht behauptet werden.
Ein Strategiepapier, das beide nach ihrer Kandidatur vorgelegt hatten, kann diese Bedenken nicht zerstreuen. Der achtseitige Aufschlag liefert wenig Substanzielles. Eingefordert wird zwar eine „gesellschaftliche Strategie im Umgang mit Corona“, doch die Antworten gehen über dem Festhalten an den Kernpunkten der bisherigen Arbeit kaum hinaus. Die Kritik innerhalb der Fraktion fiel heftig aus; Reaktionen reichten von „So was kann man nicht liefern“ bis „Sehr schlechte Performance“. Die Verteidiger verweisen darauf, dass Helm und Schatz zur Mitarbeit aufgerufen und das Papier inzwischen fortgeschrieben haben.
Brychcy hatte zusammen mit den stadtentwicklungs- und umweltpolitischen Sprecherinnen Katalin Gennburg und Marion Platta ein Papier dagegen gesetzt. Eine der Kernaussagen: „Wir wollen die anhaltenden Klimaproteste mit den bisherigen und den kommenden Arbeitskämpfen verbinden und so eine Perspektive für einen sozial-ökologischen Umbau schaffen.“ Das Eintreten für eine Partei, die bewegungsnah agiert, sozialökologisch aufgestellt ist und die öffentliche Daseinsvorsorge stärkt, dürfte mehr die Seele der Partei treffen, die in den vergangenen Jahren trotz Regierungsbeteiligung eher ihr linkes Profil geschärft hat.
Womöglich aber lassen sich zumindest die in den Papieren hervorgetretenen inhaltlichen Differenzen zusammenführen: Geplant ist eine Fraktionsklausur im August. Dort will sich die Fraktion auf ihr letztes Jahr vor der Abgeordnetenhauswahl im Herbst 2021 einstimmen. Kultursenator Klaus Lederer (Linke) gratulierte via Twitter als einer der ersten „von Herzen“ zur Wahl von Schatz und Helm. Der Abgeordnete Hakan Tas sagte der taz: „Vor uns liegen wichtige Aufgaben. Die Fraktion ist stark aufgestellt.“ Einig war sich die Fraktion in ihrem Dank an Bluhm und Wolf, die, so der allgemeine Tenor, eine hervorragende Arbeit gemacht hätten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Landesparteitag
Grünen-Spitze will „Vermieterführerschein“
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Frauen in der ukrainischen Armee
„An der Front sind wir alle gleich“