Neue Kapitel für das Mobilitätsgesetz: Nicht das (Lasten-)Rad neu erfunden

Der Senat hat die fehlenden Kapitel des Mobilitätsgesetzes – Wirtschaftsverkehr und „Neue Mobilität“ – vorgelegt. Viel wird sich dadurch nicht ändern.

Oranienstraße in Kreuzberg mit Lieferwagen in zweiter Reihe und BVG-Bus

Vertrautes Bild: Wirtschaftsverkehr macht die Straße dicht Foto: IMAGO / Jürgen Held

Das Chaos auf Berlins Straßen hat vielfältige Gründe. Einer ist mit Sicherheit die Zahl der Autos, die immer weiter steigt, allen Anstrengungen zur Einleitung der Verkehrswende zum Trotz. Genauso problematisch, und nicht erst seit gestern, ist das wachsende und erstaunlich unregulierte Aufkommen an Transport- und Lieferverkehr. Die wachsende und verdichtete Stadt braucht ständig Nachschub an Waren, und in der Ära des Internethandels wollen immer mehr Haushalte die gewünschten Produkte an der Wohnungstür in Empfang nehmen.

Auf den Straßen führt das zu Schwärmen von Lieferwagen, die in Ermangelung von Stellplätzen auf den Fahrbahnen parken. Das behindert nicht nur den Fluss der Pkws, sondern gefährdet direkt oder indirekt auch Radfahrende und andere Verkehrsteilnehmer. Auch große Lastwagen, die die unzähligen innerstädtischen Supermärkte, Einkaufszentren oder Baustellen versorgen, verstopfen die Straßen und stellen ganz besonders beim Abbiegen ein viel zu oft tödliches Risiko dar.

Aber jetzt wird alles besser – oder? Viereinhalb Jahre nach Verabschiedung des (unvollständigen) Mobilitätsgesetzes liegt endlich der Teil zum Wirtschaftsverkehr vor, für den von Anfang an ein Platzhalter vorgesehen war. Soll heißen, der rot-grün-rote Senat hat sich auf eine Fassung geeinigt, die nun noch das Parlament durchlaufen muss. Ein Prozedere, das vermutlich nicht vor dessen Wiederwahl abgeschlossen sein wird.

Schaut man in den Entwurf hinein, stellt sich schnell die Frage: Warum um alles in der Welt hat das so lange gedauert? Die Ziele, die da formuliert werden – „stadtverträgliche Liefer- und Ladeprozesse“, Vorrang für Lieferzonen vor Parkraum für private Pkw, ein Netz an Umschlagplätzen, mehr Güter auf Schiene und Schiffe – sind nicht neu. Vieles „soll“, wenig „muss“ getan werden. Und was die Umsetzung angeht, sieht das Gesetz eine Menge sekundärer Prüf- und Planungsprozesse vor.

Das kann dauern

So soll die Senatsverwaltung für Mobilität sich erst mal mit den Ressorts Stadtentwicklung und Wirtschaft und den Bezirken zusammensetzen und ein „Verkehrsflächensicherungskonzept für den Wirtschaftsverkehr“ entwickeln. Dass das dauert, versteht sich in Berlin von selbst, nicht zuletzt, weil hier wieder über Parteigrenzen hinweg verhandelt werden muss.

Weiter geht’s mit einem „Leitfaden für die Bedarfsermittlung von Liefer- und Ladeverkehrsflächen“, den die Mobilitätsverwaltung mit den Bezirken und anderen Stakeholdern erarbeiten soll – puh. Wie auch immer, das meiste steht ohnehin schon ungleich ausführlicher und konkreter im Stadtentwicklungsplan Mobilität und Verkehr („StEP MoVe“) und dem Integrierten Wirtschaftsverkehrskonzept, das erst 2021 komplett überarbeitet wurde.

Beim zweiten und insgesamt letzten Abschnitt, der nun vorliegt und sich „Entwicklung Neuer Mobilität“ nennt, sieht es ähnlich aus. Alle Ziele, die hier subsumiert werden, sind bekannt und durch die Bank zu begrüßen, sie sind aber auch nicht neu, und vieles wird – dort, wo die politischen Rahmenbedingungen stimmen – schon umgesetzt.

Gibt's doch schon

Maßnahmen, die die Verkehrsflüsse steuern und den fließenden wie ruhenden motorisierten Individualverkehr reduzieren? Ist genau das, was schon heute durch Kiezblöcke mit ihren Durchfahrsperren („Modalfiltern“) oder die Einrichtung von Fahrrad-Abstellflächen auf ehemaligen Kfz-Parkplätzen an Kreuzungen bewirkt wird, was im Bezirk Mitte derzeit massiv umgesetzt wird. Wo ein Wille ist, ist auch ein (Rad-)Weg.

Beim Thema Parkraumbewirtschaftung fällt der Entwurf sogar hinter die Möglichkeit zurück, die Ausweitung der Zonen mit Zielzahlen zu verbinden. Zur Erinnerung: Schon 2016 schrieb Rot-Rot-Grün in den Koalitionsvertrag, man werde das kostenpflichtige Parken bis zum Ende der Legislatur im gesamten S-Bahn-Ring ausrollen – das ist noch längst nicht erreicht. Interessant: die Erwähnung neuer Konzepte wie „Quartiersgaragen“. Aber auch die sollen … genau: erst mal geprüft werden.

Es ist gut und richtig, dass alle diese Ziele nun gesetzlich abgesichert werden, es mag auch die Legitimität mancher Einzelmaßnahmen noch einmal erhöhen. Gut ist auch, dass Grüne und SPD sich endlich zusammengerauft haben – der letzte Versuch war vor der Wahl im September 2021 gescheitert. Nun haben die Sozialdemokraten die Reduktion von Parkplätzen geschluckt und dafür an anderer Stelle das Wort „preisfrei“ hineinredigiert, was mutmaßlich eine Citymaut ausschließt, wie sie die Grünen favorisieren.

Wer aber erwartet hatte, dass hier das (Lasten-)Rad neu erfunden würde, hat sich gründlich getäuscht. Das Chaos auf den Straßen wird sich so nicht morgen auflösen, und übermorgen vermutlich auch nicht.

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Jahrgang 1969, lebt seit 1991 in Berlin. Seit 2001 arbeitet er mit Unterbrechungen bei der taz Berlin, mittlerweile als Redakteur für die Themen Umwelt, Mobilität, Natur- und Klimaschutz.

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