Berlins Verkehrssenatorin zum Radgesetz: „Ich finde: Turbo!“
Am Donnerstag wird nach zwei Jahren Kampf das Radgesetz verabschiedet. Doch die härtere Arbeit kommt erst noch, sagt Senatorin Regine Günther.
taz: Frau Günther, am morgigen Donnerstag wird das Mobilitätsgesetz verabschiedet. Ist das ein Erfolg für die Initiative Volksentscheid Fahrrad oder für Sie?
Regine Günther: Ich würde das nicht gegeneinander stellen. Der Impuls kam von der Initiative. Wir haben dafür gesorgt, dass er aufgegriffen und weitergetragen wurde, und nun mündet er in dieses Gesetz. Das ist ein großer Erfolg für die Zivilgesellschaft und die Stadtgesellschaft.
Warum?
Es bildet die Grundlage für viele Veränderungen in der Verkehrspolitik. Jetzt kommt es darauf an, das Erreichte auch umzusetzen, und da müssen wir alle wieder an einem Strang ziehen.
Die Initiativen und Verbände waren auch am Gesetzgebungsprozess beteiligt. War das hilfreich oder hinderlich?
Es war die Grundlage für den Erfolg. So etwas können nicht ein paar Leute in der Senatsverwaltung in ihrem Kämmerchen ausbrüten. Ich bin eine große Anhängerin breiter Beteiligung, das sehen Sie auch an meiner Biografie. Und in diesem Fall haben wir exemplarisch gezeigt, zu welch guten Ergebnissen das führen kann. Man muss nur genau schauen, wer ist Zivilgesellschaft und wer Lobbyist.
Ist das nicht manchmal schwer zu trennen? Eine Initiative wie der Volksentscheid Fahrrad macht doch klar Lobbyarbeit.
Das kommt auf die Perspektive an. Man muss sehen, ob es sich um Institutionen handelt, die dem Gemeinwohl verpflichtet sind, oder ob sie versuchen, Politik zu beeinflussen, weil es gut für den eigenen Geldbeutel ist. Die Initiative hat als Ziele weniger Verkehrstote und mehr Sicherheit für Radler formuliert, das ist kein profitorientiertes Interesse.
Regine Günther
56, ist seit Dezember 2016 Senatorin für Verkehr, Umwelt und Klimaschutz. Sie gehört keiner Partei an, wurde aber von den Grünen aufgestellt. Davor leitete sie seit 1999 das Klima- und Energiereferat des Umweltverbandes WWF.
Der ADAC ist auch kein Lobbyverband?
Wir müssen schon alle Interessen einbeziehen. Als Verwaltung machen wir da ja auch einen Abwägungsprozess und übernehmen nicht alle Positionen eins zu eins.
Es gab immer wieder Unstimmigkeiten zwischen Senat und Initiativen – vorsichtig formuliert. Gehört das dazu?
Es war eben so. Wir haben das aber bewältigt und etwas Konstruktives gemacht. Das zählt am Ende.
Aber den Fahrrad-AktivistInnen ging alles viel zu langsam. Konnten Sie das verstehen? Sie waren ja selbst viele Jahre leitend in einer NGO, der Umweltorganisation WWF, tätig.
Natürlich ist es die Aufgabe von NGOs zu sagen: Alles geht zu langsam. Wenn es den Tatsachen entspricht. Wenn es das nicht tut, ist es auch meine Freiheit, meine Position zu vertreten. Wir haben zwei Monate nach der Vereidigung des Senats die erste große Runde einberufen, im August 2017 das Gesetz vorgelegt, das dann in die öffentliche Beteiligung ging. Im Dezember war es im Senat. Für ein wirklich neues Verfahren und für Inhalte, die es deutschlandweit bisher so nicht gibt, war das ein wahnsinnig schneller Prozess. Ich kenne kein Gesetz, das schneller war.
Die Pläne Wichtigste Bausteine des aus 14 Paragrafen bestehenden Rad-Kapitels sind die Ausstattung aller Hauptverkehrsstraßen mit sicheren Radverkehrsanlagen, die Einrichtung eines Rad-Vorrangnetzes, der Bau von mindestens 100 Kilometern Radschnellweg, die Errichtung von 100.000 neuen Radabstellplätzen sowie von Fahrradparkhäusern an wichtigen Umsteigebahnhöfen.
Die Auswertung Auch wird festgelegt, dass alle fünf Jahre eine Erhebung über das Sicherheitsempfinden von RadfahrerInnen an Knotenpunkten stattfinden soll. (clp)
Rekordzeit?
Ich finde: Turbo!
Denken Sie, die Komplexität des Themas Verkehr wird allgemein unterschätzt?
Das weiß ich nicht. Was aber unterschätzt wird, ist die Zeitschiene, die es braucht, um Infrastruktur zu verändern. Die Gesetzgebung ist ja noch der vergleichsweise leichtere Teil: Jetzt kommen die langen Vorlaufzeiten, die konkreten Planungen und die umfassenden Beteiligungsverfahren – ein Umbau, wie wir ihn uns vorgenommen haben, geht schließlich nicht von heute auf morgen. Deswegen ist es absurd, wenn es jetzt heißt: „Man sieht ja noch gar keine Veränderungen!“ In 15 Monaten kann man eine Stadt nicht umbauen.
Drei Jahre bleiben noch bis zum nächsten Wahlkampf. Spätestens dann sollte etwas von den Veränderungen zu sehen sein.
Bis zum Ende der Legislatur werden deutliche Veränderungen zu bemerken sein. Jetzt haben wir das Fundament gelegt: Der Doppelhaushalt steht, wir haben das Geld. Wir haben Planer eingestellt im Senat, in den Bezirken wird zum Teil noch gesucht. Wir haben Gespräche mit den Bezirken aufgenommen, denn letzten Endes bauen sie. Und jetzt geht es los.
Wo denn?
Etwa an der Holzmarktstraße und der Karl-Marx-Allee. Dort wird man die ersten geschützten Radstreifen sehen. Und wir haben schon Maßnahmen umgesetzt, die vielleicht nicht direkt ins Auge springen: Radwege asphaltiert, Radbügel aufgestellt, Planungen für die Radschnellwege konkretisiert, die Planungen für die Fahrradparkhäuser vorangetrieben. Das erste entsteht am S-Bahnhof Zehlendorf.
Wie viele Kilometer neue Radwege sollen es denn werden bis 2021?
Wir haben dafür keine Kilometerzahl, das kann auch nicht ohne Abstimmung mit den Bezirken entschieden werden. Aber wir werden es auf einer Karte abbilden, und dann kann jeder sehen, was sich am Ende der Legislaturperiode verändert hat.
Für viele Menschen wäre ein Leuchtturmprojekt eine tolle Sache. Was ist denn mit den lang angekündigten geschützten Radwegen an der Hasenheide?
Natürlich ist es die Aufgabe von NGOs zu sagen: Alles geht zu langsam – wenn es den Tatsachen entspricht.
Da hatte die Feuerwehr Bedenken angemeldet. Aber im Herbst wird gebaut, das ist mit dem Bezirk abgesprochen.
Die Bedenken sind ausgeräumt?
Es wird für die Feuerwehr keine Verschlechterung zum vorherigen Zustand geben.
Was ist mit der Karl-Marx-Allee?
Da haben wir am letzten Dienstag angefangen zu bauen. Der Umbau der Straße, der insgesamt zwei Jahre dauert, war aber sehr lange geplant. Mir war wichtig: Wenn dort schon gebaut wird, dann nur mit den neuen Radwegen. So haben wir in einem Kraftakt die existierenden Planungen noch in letzter Minute verändern können. Es wird jetzt einen deutlich breiteren geschützten Radstreifen geben. Das ist bei einer solchen Straße gerechtfertigt.
Ist das die Strategie: erst mal dort neue Radwege anlegen, wo sowieso Straßen umgebaut werden?
Nein, das hat sich in diesem Fall angeboten. Wir warten nicht, bis wir eine Straße komplett sanieren müssen. Übrigens auch nicht in der Hasenheide.
Sie heben sich auch nicht die schweren Fälle für den Schluss auf?
Nein.
Bauen Sie zuerst dort, wo Unfallschwerpunkte sind?
Unfallträchtige Kreuzungen werden umgebaut – laut neuem Gesetz in diesem Jahr zehn, im nächsten Jahr 20, danach je 30. Aber das ist etwas anderes, als die Radwege neu aufzuziehen.
Nutzen Sie da Erkenntnisse Ihrer Vorgänger? Ende 2013 gab es ein Partizipationsverfahren der Verkehrsverwaltung, bei dem RadlerInnen Orte nennen konnten, wo sie sich besonders unsicher fühlen. 3.000 Menschen haben sich beteiligt, Folgen hatte das unseres Wissens bisher nicht.
„Bis zum Ende der Legislatur werden deutliche Veränderungen zu bemerken sein.“
Wir werden uns diese Vorschläge noch einmal anschauen. Aber viel hat sich seit 2013 schon wieder verändert. Deswegen erstellen wir aktuelle Listen mit gefährlichen Kreuzungen. Der Ausbau der Radinfrastruktur geht erst jetzt richtig los, denn jetzt sind das Geld und das Personal vorhanden.
Wie viel Geld steht insgesamt für alle Umbauten und neuen Radwege zur Verfügung?
200 Millionen Euro für die gesamte Legislaturperiode.
Können Sie das alles ausgeben?
Wir werden auf jeden Fall so viel Geld verbauen wie möglich.
Sind die Bezirke kooperativ?
Das ist unterschiedlich. Aber wir merken, dass in der Bevölkerung ein großer Bedarf nach neuer Infrastruktur herrscht. Und wenn die ersten Wege gebaut sind, werden viele fragen: Warum haben wir so etwas nicht in unserem Bezirk? Letzten Endes werden alle Bezirksämter verstehen, dass Radwege eine gute Investition sind.
Parkplätze werden wegfallen für die Radwege, auch Bäume müssen wohl gefällt werden. Erwarten Sie schwerwiegende Konflikte?
In einer Metropole, in der Grund und Boden knapp sind, ist der öffentliche Straßenraum per se sehr begehrt. Die große Debatte der nächsten Jahre wird sein: Wie verteilen wir diesen Raum? Wenn es mehr (Miet-)Fahrräder gibt: Stellen wir die auf dem Gehweg ab oder auf der Straße? Können private Autos künftig so viel Raum einnehmen wie derzeit? Da wird es unbequeme Antworten geben, ab und zu wird auch ein Baum gefällt werden müssen – obwohl das die Ausnahme sein soll und es Kompensation geben wird.
Gibt es Kompensationsangebote für Autofahrer, deren Parkplätze wegfallen?
Ganz klar: Wir bieten gute Alternativen, also den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs. Da sind wir noch nicht zufrieden mit dem aktuellen Stand. Wir werden mehr S-Bahn- und U-Bahn-Wagen kaufen, das Tramnetz erweitern und die Barrierefreiheit deutlich verbessern. Es geht nicht um Verbote.
Welche Verbote?
Es geht nicht darum, großflächig den Zugang mit dem Auto in die Innenstadt zu verbieten. Es geht uns darum, sehr gute Alternativen zum Auto anzubieten.
In den Innenstädten anderer Metropolen parken kaum noch Autos am Straßenrand.
Stimmt. Wenn wir eine wachsende Stadt bleiben und mehr Menschen, auch mehr Pendler, nach Berlin kommen, brauchen wir neue Konzepte.
Brauchen wir mehr Parkhäuser?
Derzeit werden die bestehenden ja nicht richtig genutzt, viele stehen leer. Solange das so ist, müssen keine neuen gebaut werden. Es wäre auch ein falscher Anreiz. Wir wollen lieber Angebote machen, dass die Menschen gar nicht mehr mit dem Auto in die Stadt fahren möchten.
Stichwort Parkraumbewirtschaftung: Dabei kommen Anwohner heute noch ziemlich billig weg. Muss sich das ändern?
„Es ist absehbar, dass wir an hoch belasteten Straßen nicht unter die Grenzwerte kommen werden. Wenn sich das bewahrheitet, werden wir zusätzlich über Fahrverbote nachdenken.“
Perspektivisch wird die Ausgestaltung der Parkraumbewirtschaftung ein Thema sein müssen. Unsere Prioritäten sind jetzt erst einmal andere.
In der Innenstadt werden Autos damit zum teuren Gut.
Ein Auto zu besitzen ist per se teuer. Wir gehen jetzt aber erst mal den Weg, den ÖPNV deutlich attraktiver zu machen und zu verbilligen. Erste Schritte wurden mit dem Sozial- und SchülerInnenticket schon gegangen. Weitere werden folgen.
Die Stadt hat einen Vertrag mit einem Bikesharing-Anbieter. Planen Sie so etwas auch für Carsharing?
Wenn man will, dass dieses Angebot auch in den Außenbezirken angeboten wird, muss man über eine finanzielle Förderung oder sonstige Vergünstigungen nachdenken.
Wollen Sie das?
Wir schauen jetzt erst mal, wie es läuft. Derzeit haben wir keine Förderprogramme für Car-Sharing aufgelegt. Das heißt nicht, dass die für alle Zeiten ausgeschlossen sind.
Auch nicht ausgeschlossen sind Fahrverbote für Dieselfahrzeuge – wegen zu hoher Stickoxidwerte an vielen Hauptstraßen. Drohen die in Berlin?
Niemand wünscht sich Fahrverbote, aber alle wünschen sich saubere Luft, auch ich. Politiker müssen das im Rahmen ihrer Möglichkeiten sicherstellen. Das Thema Stickoxide ist sehr komplex: Betroffen sind die Anwohnerinnen und Anwohner, die den Dreck einatmen, aber auch jene, die einen Diesel gekauft haben, ja geradezu animiert wurden, das zu tun.
Er galt als besonders sauber.
Sie wurden betrogen: Das Auto stößt mehr Stickoxide aus, als in den Papieren stand. Die sinnvollste Maßnahme wäre jetzt eine Nachrüstung der Hardware. Das kann aber nur die Bundesregierung anordnen.
Was sie nicht tun wird.
Zumindest ist es nicht erkennbar. Es ist beispiellos, wie die Bundesregierung einen Betrug am Verbraucher nicht ahndet.
Was können Sie tun?
Berlin hat im Bundesrat auf meine Initiative einen Antrag eingebracht, der die Bundesregierung auffordert, die Hardwarenachrüstung auf Kosten der Hersteller durchzusetzen. Ich bin sehr gespannt, wie sich die Landesregierungen dazu positionieren. In Berlin habe ich gesagt: Wir lassen erst mal alle Autos auf der Straße und schauen, was wir mit Geschwindigkeitsbegrenzungen und einer Verstetigung des Verkehrs erreichen.
Mit Verstetigung meinen Sie zum Beispiel Grüne Wellen?
Genau. Wenn wir damit die Stickoxid-Belastung reduzieren können, bauen wir Tempo 30 und Verstetigung weiter aus.
Laut ersten Messungen, die der RBB veranlasst hat, tut sich aber nichts.
Das haben wir auch nicht erwartet nach dieser kurzen Zeit. Wir brauchen einen längeren Untersuchungszeitraum.
Und wenn es am Ende wirklich nichts bewirkt?
Es ist schon jetzt absehbar, dass wir an sehr hoch belasteten Straßen nicht unter die Grenzwerte kommen werden. Wenn sich das bewahrheitet, werden wir zusätzlich über Fahrverbote nachdenken.
Für die entsprechenden Dieselfahrzeuge.
Das ist die Herausforderung: Welche Autos sind betroffen? Welche Ausnahmen gibt es? Wohin weicht der Verkehr aus? Wenn ich die einen Anwohner schütze, darf ich ja nicht andere der gleichen Gefahr aussetzen.
Ärgert es Sie, wenn die CDU Sie „Anti-Auto-Senatorin“ nennt?
Das stört mich nicht (lacht). Ich würde mich so nicht bezeichnen – aber ich bin mir gar nicht sicher, ob das im heutigen Mainstream überhaupt noch ein Makel ist. International ist es so, dass Berlin der Entwicklung im Verkehr eher hinterherläuft. Die Veränderungen, die wir jetzt anschieben, die gibt es weltweit, weil alle vor dem gleichen Problem stehen.
Deutschland ist ein Autoland – nur so ist die zögerliche Haltung der Bundesregierung zu verstehen.
Ich verstehe das nicht. Eine Regierung, der die Entwicklung der Autoindustrie am Herz liegt, müsste diese zu Innovationen drängen und entsprechende Anreize setzen. Im Energiesektor hieß es 2006: Wir müssen die Energieversorger vor den Kosten schützen, die sollen auf gar keinen Fall mehr in erneuerbare Energie investieren müssen. RWE und EON durften schön weitermachen mit Kohle und ab 2010 dann auch noch kurze Zeit mit Atom. Das war irre! Ich habe damals gewarnt: Diese Unternehmen werden bald nicht mehr wettbewerbsfähig sein. Und was ist von den großen, stolzen Energieversorgern übrig? Alle sind kollabiert und zerstückelt worden.
Was heißt das für die Autoindustrie?
Dort werden wir das Gleiche sehen, befürchte ich – und zwar ganz ohne Schadenfreude, es hängen wirklich viele Arbeitsplätze dran.