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Neue Kampagne gegen sexuelle GewaltUnd wenn es kein Fremder ist?

Häufig findet sexueller Missbrauch an Kindern im engeren Umfeld statt. Eine Kampagne des Familienministeriums will dafür sensibilisieren.

Bundesministerin Lisa Paus (l.) und Kerstin Claus, Missbrauchsbeauftragte des Bundes Foto: Demy Becker/dpa

Berlin taz | In einer Schulklasse sitzen durchschnittlich ein bis zwei Schü­le­r:in­nen, die sexuelle Gewalt erfahren oder erfahren haben. Und das ist lediglich das sogenannte Hellfeld. Dunkelfeldstudien kommen zu dem Ergebnis, dass schätzungsweise je­de:r siebte bis achte Erwachsene in Deutschland in der eigenen Kindheit oder Jugend Opfer sexueller Gewalt wurde.

Dringend nötige Präventionsarbeit werde jedoch oft durch gravierendes Unwissen und Ignoranz gegenüber den Umständen sexuellen Missbrauchs verhindert, erklärte die Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Kerstin Claus, am Donnerstag in Berlin. Gemeinsam mit Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) stellte Claus eine neue Kampagne zur Aufklärung über sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen vor.

Die Aktion mit dem Titel „Schieb den Gedanken nicht weg!“ soll darauf aufmerksam machen, „dass Missbrauch in den meisten Fällen im vertrauten Umfeld der Kinder vorkommt“, so Paus. Kerstin Claus und ihre Arbeitsstelle gehen davon aus, dass drei Viertel aller Missbrauchsfälle bei Heranwachsenden in der eigenen Familie und im sogenannten sozialen Nahfeld – etwa Schulen, Sportvereinen oder Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe – stattfinden. Und doch halten es 85 Prozent der Befragten einer Forsa-Umfrage für „unwahrscheinlich oder ausgeschlossen, dass sexuelle Gewalt in ihrer eigenen Familie passiert oder passieren kann“.

Claus warnt: „Wir sind alle Meis­te­r:in­nen darin, den Gedanken, dass der Tatort das engste Umfeld ist, wegzuschieben und lassen schutzsuchende Kinder und Jugendliche somit in letzter Instanz im Stich.“ Ändern soll das die Aufklärungskampagne, die am Freitag anlässlich des Europäischen Tags zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexueller Gewalt startet.

Motiv des gemütlichen Kinderzimmers

Die Gestaltung der Plakate und Broschüren spielt mit dem Motiv des gemütlichen Kinderzimmers. Der typische Satz der Eltern, Kinder sollen Fremden nicht die Tür öffnen oder mit ihnen nach Hause gehen, wird mit der Frage gekontert: Und wenn es kein Fremder ist oder die Gefahr schon drinnen ist?

Der Betroffenenrat, ein Gremium der Unabhängigen Beauftragten, könne sich mit dem Slogan der Kampagne identifizieren, sagte Ratsmitglied Angela Marquardt: „Wenn du Missbrauch vermutest, suche dir Hilfe, kompetente Ansprechpartner und entwickle selbst Handlungskompetenzen, aber schau nicht weg“, appellierte Marquardt gegenüber der taz.

Die Kampagne soll nun diese Kompetenzen in der Zivilgesellschaft stärken. Das Hilfe-Telefon soll bekannter werden, eine bundesweite Koordinationsstelle soll Aufklärungsmaterial verwalten und Kommunen darin unterstützen, Beratungsstellen auf- und auszubauen.

Außerdem soll das Amt der Unabhängigen Beauftragten gesetzlich verankert werden, um eine kontinuierliche Debatte über und verbesserte Erforschung von Missbrauchsfällen in Deutschland zu fördern. Claus räumte jedoch ein, dass die Kampagne das strukturelle und immer wieder auftretende Problem des Behördenversagens – wie etwa im riesigen Missbrauchskomplex in Lügde in NRW – nicht lösen kann.

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4 Kommentare

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  • Hilfreich ist bei diesem Thema, wenn Kinder möglichst früh lernen, zu benennen, was da überhaupt passiert ist. Das fängt schon bei der korrekten Benennung der Geschlechtsteile an (besser als "da unten" o.ä., was zu viel Interpretationsspielraum lässt).

    Ich finde es sehr gut, dass der Fokus des Themas nun vermehrt auf dem direkten (familiären) Umfeld liegt. Dass die meisten Menschen sich das kaum vorstellen können, ist eine Sache. Dass es aber leider tatsächlich häufig passiert, eine andere.

    Die Betroffenen, die ich kenne, haben es genauso wie beschrieben erlebt.. Die Erwachsenen glauben nichts und vertuschen. Und dann beschweren sich die Eltern, warum die Kinder "immer so frech" zum bestimmten Onkel sind... Kindern wird die Schuld gegeben, die Familie zu zerstören. Schrecklich.

    Evolutionsbedingt hat das bestimmt gute Gründe, nur als Gruppe sind wir stark. Doch muss es auch Möglichkeiten geben, die Kinder zu schützen und im besten Fall die Täter zur Rechenschaft zu ziehen (was leider fast nie passiert).

    Es ist so wichtig, dass Eltern lernen, die ersten Anzeichen bei den Kindern zu sehen und die Kinder schützen.

    Wie schlimm muss es für ein Kind sein, wenn die eigenen Eltern ihm nicht den Rücken stärken?

  • *an Kindern und Frauen (und auch Männern). Das Schlimme ist, dass den Opfern fast nie geglaubt wird und sie 'in Bringschuld' sind. Es wird mehr über den Zerstörten Ruf des meist männlichen Täters und dessen 'Leid' geklagt als sonst was. Schrecklich.

    Und wenn man dann auch noch bedenkt, dass Sexualstraftäter kaum bis keine Strafe erhalten und frei 'rumlaufen dürfen während die Omi, die einen Fehler in Steuererklärung gemacht hat richtig in die Mangel genommen wird... Unfassbar...

  • Ich glaube es würde schon helfen wenn man Kindern glaubt wenn Sie von Missbrauch erzählen.

    Ich weiß vor ein paar Jahren hat man festgestellt das ein Kind im Schnitt 7 mal versucht Hilfe zu bekommen bevor jemand zuhört und dem Kind glaubt.



    SIEBEN mal Angst und Scham überwinden um dann zu hören das man sowas nicht erfinden darf und womöglich wird der/die Täter:in noch über die 'blühende Fantasie' informiert.

    Ich kann verstehen das es manchmal schwer zu ertragen ist und evtl will man nicht glauben das ein naher Angehöriger oder ein guter Freund so etwas tun könnte.

    Nur ist es nicht noch viel unwahrscheinlicher das ein kleines Kind solche Dinge erfindet?

    Hört Kindern zu und wendet euch an Beratungsstellen.

  • „Häufig“ ist da jetzt etwas untertrieben:



    Laut beauftragte-missbr...t-missbrauch-statt ist der fremde Täter der Einzelfall!



    Natürlich gibt es keine belastbaren Zahlen wegen der dunkelziffer, aber ich erinnere mich an ein Gespräch mit einer Kita-Leitung vor einer weile, die sprach von geschätzten 80-90% missbrauch durch das nähere Umfeld.