Neue Graphic Novel von Manuele Fior: Aufbruch in eine andere Zukunft
Seine Graphic Novel „Celestia“ gestaltet Manuele Fior als eine architektonische Entdeckungsreise. Pierrot und Dora suchen eine ideale Welt.
„Verweile nicht, nur fort!“ Pierrot ist Dichter und spricht oft in Versen. Der schmale junge Mann gibt sich exzentrisch, trägt einen Reishut und eine lange, geschminkte Träne auf der Wange, passend zu seinem Vornamen wirkt er wie ein trauriger Clown.
Pierrot ist der Sohn von Dr. Vivaldi, der vor langer Zeit die Brücke zum Festland gesprengt hat und nun so etwas wie ein intellektueller Guru der Elite der Insel Celestia ist. Eine „Große Invasion“ hat vor Jahren Südeuropa überrollt, um weiter nach Norden zu ziehen, weswegen sich die flüchtenden Einheimischen in abgeschnittene Gegenden wie Celestia zurückzogen. Viel Zeit ist seitdem vergangen. Die Telepathie – die Fähigkeit, die Gedanken anderer zu lesen oder zu beeinflussen – erscheint Dr. Vivaldi und vielen Menschen nun als Möglichkeit, eine neue, bessere Gesellschaft zu gründen.
Manche sind dafür besonders begabt – wie Pierrot und seine Freundin Dora. Doch Pierrot interessieren weder die Pläne seines Vaters noch die Ränkespiele einer Gruppe von Kleinganoven seines Alters, die Commedia-dell’Arte-Kostüme tragen. Es drängt ihn nach draußen, er will wissen, was von der Welt noch existiert. Zusammen mit Dora fährt er auf einem alten Kahn zum Festland …
Ambitionierte Zukunftsszenarien
Das titelgebende „Celestia“ ist in Manuele Fiors neuer Graphic Novel eine zukünftige Vision oder auch eine alternative Version von Venedig. Den Namen – übersetzt bedeutet er „Die Himmlische“ – hat sich der italienische Zeichner von einer gleichnamigen ehemaligen Klosteranlage in der Lagunenstadt geliehen, aber ansonsten scheint diese nahezu menschenleere, himmlisch-postapokalyptische Stadt noch ganz so auszusehen wie das heutige Venedig mit seinen Palazzi, alten Kirchen und seinem Kanal, auf dem man sich mit kleinen Gondeln fortbewegt. Doch nur auf den ersten Blick.
Manuele Fior: „Celestia“. Aus dem Italienischen von Myriam Alfano. Avant Verlag, 272 Seiten, Hardcover, 29 Euro
Der 1975 geborene Manuele Fior studierte vor über 20 Jahren in Venedig Architektur, entschied sich nach dem Abschluss aber, Comiczeichner zu werden. Inzwischen ist er einer der wichtigsten Italiens. Schon in der Graphic Novel „Die Übertragung“ (2012) sowie in der Comicerzählung „Die Tage der Amsel“ (2015) erschuf er ungewöhnliche, inhaltlich ambitionierte Zukunftsszenarien, und die Telepathie spielte thematisch schon eine Rolle. Auch die Figur der Dora tauchte in diesen Geschichten bereits als Telepathin auf.
Fior verriet in Interviews, dass er mit dieser „fixen Idee“ eine neue Evolutionsstufe des Menschen kennzeichnen will. Die in „Celestia“ enthaltene dystopische Vorgeschichte wird nur vage angedeutet: ein immenser Flüchtlingsstrom könnte wohl Europa heimgesucht haben, und der Klimawandel könnte der Grund dafür sein, dass das Leben in der südlichen Hemisphäre unmöglich wurde.
Mit der auf Celestia „versteckten“ Gemeinschaft spielt der Italiener wiederum auf die Frühgeschichte Venedigs an, da sich in der Spätantike flüchtende Völker unter anderem im 5. Jahrhundert vor Attilas Hunnen auf die Laguneninseln flüchteten und so – der Legende nach – den Grundstein für das spätere Venedig legten.
Wie immer bei Fior ist die Graphic Novel atemberaubend schön gezeichnet, elegant erzählt und in leuchtenden Aquarellfarben gehalten, die mit der subtil bedrohlichen Atmosphäre auf Celestia kontrastiert.
Die Handlung, die sich zuweilen im Episodischen verliert und auch erotische Passagen enthält, ist diesmal jedoch nicht das Wesentliche. Manuele Fior möchte eine stimmige Zukunftswelt erschaffen – erträumen wäre wohl noch zutreffender –, für die der Begriff Science Fiction unzureichend ist. Vielmehr versucht Fior, Venedig in Form von Celestia neu zu denken.
Verweben von Architekturzitaten
Dafür verwebt der studierte Architekt Zitate von ikonischen Architekturen der Moderne und Postmoderne in seine Comicerzählung. Zwei dieser Gebäude haben direkten Bezug zur Stadt. Der auffällig moderne Palazzo, in dem sich Dr. Vivaldi und seine Anhängerschaft aufhält (für dessen Äußeres übrigens, entgegen der Namensanspielung auf den barocken Antonio Vivaldi, der Revoluzzer-Komponist des 20. Jahrhunderts, Igor Strawinsky, Modell gestanden hat), ist eine exakte Kopie eines Gebäudeentwurfs von Frank Lloyd Wright, das „Masieri Memorial House“, das dieser um 1952 als „Interpretation von Venedig“ konzipiert hatte, das aber aufgrund des strengen venezianischen Baurechts, vielleicht auch wegen seines zu zeitgenössischen Looks, nicht realisiert wurde.
Dieses Schicksal teilt ein weiteres Gebäude: Während der Reise von Pierrot und Dora zum Festland stranden sie an einem langen, flachen Gebäude aus Stahlbeton, das exakt dem „Neuen Hospital“ (1965) des Architekten Le Corbusier entspricht, das zu seinen besten nicht realisierten Entwürfen zählt.
Am Festland erwarten die beiden Ausreißer weitere architektonische Überraschungen: eine eindrucksvolle Festung aus rotem Sandstein, die an die (diesmal reale) Anlage „La Manzanera“ in Alicante des Architekten Ricardo Bofill angelehnt ist. Schließlich treffen Pierrot und Dora auf eine nur von Kindern bewohnte Siedlung, die einen Komplex von Louis Kahn aufgreift („Salk Institute for Biological Studies“), der in La Jolla in Kalifornien gebaut wurde.
Die Lektüre der Graphic Novel und die Odyssee seiner beiden Protagonisten zum Festland wird so also auch für die Leserschaft zu einer lustvollen architektonischen Entdeckungsreise. Mittels dieser stellt Manuele Fior eine ideale, erträumte Zukunft dar, die auch Verweise auf die Vergangenheit enthält.
Die üblichen Venedig-Ansichten werden vermieden, jedoch Anspielungen auf die Commedia dell’Arte, den Canale Grande und die Gondeln beibehalten. Bei so viel visueller und motivischer Vielschichtigkeit kann jedoch der narrative Faden mit seiner am Ende angedeuteten Heile-Welt-Utopie nicht ganz mithalten. Trotzdem berührt diese Geschichte zweier Unangepasster durch ihre nuancierte, gefühlvolle Erzählweise.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen