Neue Filme von Laura Poitras: Totaler Kontrollverlust
Im Neuen Berliner Kunstverein zeigt Laura Poitras neue Arbeiten. Schockierend ist das Anwenden von Spyware gegenüber Menschenrechtler:innen.

Man wird langsam herangeführt an die Gräuel dieser Zeit in Laura Poitras' neuesten Videoarbeiten, die in Kooperation mit Sean Vegezzi entstanden sind und aktuell im Neuen Berliner Kunstverein (nbk) gezeigt werden. Herangeführt an das Gefühl der Hilflosigkeit angesichts übermächtiger Strukturen.
Poitras kennt sich mit staatlichen Repressionen aus. Die US-amerikanische Filmemacherin steht seit ihrem Film über die US-Besetzung des Irak „My Country, My Country“ auf der terrorist watch listund scheute auch vor der Zusammenarbeit mit Amerikas Staatsfeind Nummer eins nicht zurück: 2014 veröffentlichte sie mit „Citizenfour“ einen Film über den Whistleblower Edward Snowden.
Es ist besonders hilflos, wer den übermächtigen Strukturen nicht entfliehen kann; eingesperrt auf einem riesigen Gefängnisschiff zum Beispiel. Besonders bedrohlich wirkt das vor New York vertäute Schiff, das entweder der Brutalismus-Hoch-Zeit oder Gotham City entsprungen sein muss, weil es in Poitras’ Film nur von außen zu sehen ist.
Möglicherweise sehen wir an einer Stelle Inhaftierte über einen Zaun lugen, ansonsten geben nur die abgefangenen Funksprüche der Wärter:innen Einblick in den Gefängnisalltag. Und der ist hart: Regelmäßig kommt es zu Gewalteskalationen, Bränden oder Pfeffersprayeinsätzen. Die Pandemie scheint hier nicht zu existieren, immerhin werden die Insassen regelmäßig in Schlafsälen mit 50 Betten unter Quarantäne gestellt. Da wundert es kaum, dass das Schiff unter den Gefängnissen in New York die höchste Covid-19-Todesrate verzeichnet.
Gefängnisinsassen vergraben Leichen auf Hart Island
circles, Laura Poitras, Der Neue Berliner Kunstverein, bis 8. 8.
Gänzlich Horroratmosphäre versprüht auch der nächste Film. „Hart Island“ ist eine Insel wie aus einem Stephen King-Roman entsprungen: verlassene Gebäude, tote Bäume und eine ganze Menge Leichen. Die müssen Gefängnisinsassen von Rikers Island hier nämlich regelmäßig vergraben, wenn niemand Anspruch auf die Toten erhebt oder sich die Angehörigen kein Begräbnis leisten können.
Die Häftlinge sieht man so im kalten Frühlingswind auf den Massengräbern stehen, auf Erde wartend, die ein Bagger ihnen vor die Füße wirft. Abstandsregeln befolgen auch sie im pandemiegebeutelten New York nicht. Als Zuschauer:in ist man hier ganz nah dran: Kameradrohnen sind für filmische Einsätze wie diese ein echter Gewinn.
Wie gefährlich der Fortschritt durch Technik aber auch für jeden Einzelnen werden kann, wird im letzten Raum im nbk deutlich, der sich gänzlich der digitalen Überwachung widmet. Poitras ist in der Vergangenheit selbst Opfer von Überwachung geworden. 2012 ist die 57-Jährige deswegen sogar nach Berlin gezogen, um ihre Quellen zu schützen.
Für ihr neues Projekt „Terror Contagion“ dokumentierte die Regisseurin die laufenden Ermittlungen von Forensic Architecture gegen den israelischen Cyberwaffenhersteller NSO Group. In einigen Ländern, darunter auch die USA, ist es der Firma eigentlich untersagt, zu agieren, doch ihre Spyware Pegasus ermöglicht es trotzdem, weltweit Menschen zu überwachen.
Spyware kann eigenständig Nachrichten senden
Ein falscher Klick auf dem eigenen Smartphone, und schon kann Pegasus alles mitlesen und sogar selbst Nachrichten verschicken. Die Interessentenliste der Software liest sich wie ein Who’s who der evil states: Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate; auch in einigen diktatorisch regierten afrikanischen Staaten ist die Firma aktiv.
Besonders fassungslos machen die Zielpersonen, die Opfer von Pegasus werden: Darunter sind Journalist:innen, Menschenrechtler:innen und Aktivist:innen. Auch die Ermordung des saudischen Journalisten Jamal Khashoggi soll mithilfe der NSO Group ermöglicht worden sein, was das Unternehmen bestreitet.
Überhaupt scheint die Firma kein Problem damit zu haben, dass sie Diktaturen ihre schmutzige Arbeit erleichtert. Ihre Kunden nutzten die Dienste der NSO Group lediglich, um gegen Terrorismus vorzugehen, sagt Mitgründer Shalev Hulio. Dass Staaten wie Saudi-Arabien ein anderes Terrorverständnis haben als die meisten westlichen Staaten, ist anscheinend zweitrangig.
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