Neue Erinnerungskultur um die Shoa: Du darfst dir ein Bild von Auschwitz machen
Gerhard Richters Birkenau-Kapelle oder eine 3D-Videokulisse des Vernichtungslagers: Wird Auschwitz nur zum leeren Symbol, fragt Künstler Leon Kahane.

Auschwitz ist wieder deutsch. Warum gerade Gerhard Richter ein Ausdruck davon ist, erfährt man in den nachkriegsmodernen Ausstellungsräumen der Galerie Nagel & Draxler in Köln. Hier zeigt der Berliner Künstler Leon Kahane gerade seine bemerkenswert aufklärerische Solo-Show „Dialog Dialog Dialog“.
Schon die erste nahezu blanke Druckgrafik, die man durchs Schaufenster sieht, macht klar, dass Kahanes kritisches Prinzip die Negation ist. Ästhetisch: Bilderverbot, Farblosigkeit und Blickverweigerung. Inhaltlich: die Entthronung von Gerhard Richter, dem deutschen Weltmarktführer der Kunst. Oder wie das Kölner Publikum am Eröffnungsabend dazu sagt: „Vatermord“.
Wer sich jetzt einen Slasher vorstellt, wird enttäuscht. Denn dort an der Wand in Köln hängen eingangs nur vier weiße, bilderlose Tafeln, arrangiert zu einem quadratischen Panel: Kahanes Invarianz von Gerhard Richters Gemälde-Zyklus Birkenau. Seit Februar 2024 stellt Richter Fotoabzüge davon in einem eigens von ihm und seiner Frau Sabine Moritz entworfenen Pavillon auf dem Gelände der Jugendbegegnungsstätte in Oświęcim (dt. Auschwitz) aus. Und um diesen Pavillon geht es Kahane. Wofür er steht, zu einem Zeitpunkt, an dem die letzten Überlebenden der Vernichtungslager sterben.
Leon Kahane: „Dialog Dialog Dialog“. Galerie Nagel Draxler, Köln, bis 22. August
Ein leeres Symbol für wieder gut gewordene Deutsche
Was er zeigen will: Auschwitz ist nicht mehr der Ort, an dem Überlebende die deutschen Verbrechen anklagen. Auschwitz ist längst Kulisse und leeres Symbol für wieder gut gewordene Deutsche. Für deutsche Kunststars wie Gerhard Richter oder jüngst auch Jürgen Teller, der einen Fotoband über das Vernichtungslager veröffentlicht hat. Deren Blick auf Auschwitz ist abstrakt, unpersönlich, wenig erkenntnisreich und, im Fall von Richter, umhüllt von einer geschichtsvergessenen Aura des Bösen – das plötzlich allgemein menschlich wirkt. Kein Wunder also, dass im Foyer von Richters Birkenau-Kapelle dieses Zitat von ihm prangt: „Sich ein Bild zu machen…macht uns zu Menschen.“

Richters Bilder, ein humanisierender Akt am unmenschlichen Ort? Das Darstellungsproblem, das jüdische Intellektuelle wie Theodor W. Adorno, Georges Didi-Huberman oder Claude Lanzmann angesichts der Verbrechen in Auschwitz-Birkenau formuliert haben, scheint hinfällig: der deutsche Künstler hat mit seinem Pavillon eine Lösung gefunden. Die Obszönität dieses Gedankens stellt Kahane aus, indem er Richters Zitat übernimmt und es bilderlos in Deutsch, Polnisch und Englisch auf drei der vier Tafeln seines Quadrichons druckt – Richters Pathosformel wird zur These, an der sich Kahanes Ausstellung antithetisch abarbeitet.
Wie sehr Auschwitz benutzbare Plattform und Icon ist, zeigt der schlichte Schwarz-Weiß-Film „24. März 2024 – Birkenau“. Alles, was man dort sieht, sind Absperrzäune und flatternde weiße Zelte. Sie verdecken, was man eigentlich nicht sehen soll: die Renovierung der Baracken von Auschwitz-Birkenau. Das Kulissenhafte tritt hervor, aber auch die traurige Gewissheit, dass Orte der Erinnerung genauso dem zeitlichen Verfall ausgesetzt sind, wie die Erinnerung selbst. Dazu passt die kontroverse Entscheidung der Gedenkstättenleitung von Auschwitz-Birkenau, einen kompletten Digitalscan des Lagers anzufertigen und seit vergangener Woche als 3D-Videokulisse an Filmproduktionen zu verkaufen. Nie war es leichter, sich ein Bild von Auschwitz zu machen. Nur: bringt das wirklich was?
Rechtsextreme im rolt-goldenen Dunst
Denn was hinter den belanglosen Bildern deutscher Erinnerungskunst lauert, demonstriert Kahane in der Fotoserie „1. September 2024 – Zwickau“. Wie ein Beweis für die ohnmächtige Arroganz des Richter-Zitats, schließt sie die Ausstellung an der hintersten Wand der Galerieräume ab. Durch einen Fehler im Druckverfahren sind die Schwarz-Weiß-Fotografien in einen rot-goldenen Dunst gehüllt – in Deutschlandfarben. Darauf zu sehen: Jugendliche Rechtsextreme der völkischen Organisation Dritter Weg. Sie alle verdecken ihre Augen mit den Händen. Die Wiedergänger der deutschen Täter wollen nicht erkannt werden. Und: Sie wollen sich kein Bild machen.
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