Neuaufstellung von Arendt-Preis: Zu viele ausgezeichnete Antisemiten
Neue Leute und Strukturen sollen den Arendt-Preis vor Israelhassern bewahren. Nach dem Eklat von 2023 folgen jetzt Reformen bei Trägerverein und Jury.
Im Jahr 2024 muss der Bremer Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken aussetzen. Das bestätigte die neue Vorstandsvorsitzende des 1994 gegründeten Arendt-Preis-Vereins, Waltraud Meints-Stender. Die Pause ist eine Folge, aber keine Reaktion auf den Eklat des vergangenen Jahres, in dem der Preis an Mascha Gessen verliehen worden war.
„Ich bedauere die Unterbrechung sehr“, so die Politik-Professorin, die in Mönchengladbach lehrt und zu Arendts Begriff der politischen Urteilskraft geforscht hat. Gleichzeitig wolle man die Zwangspause nutzen, „um Sicherungen einzubauen“, stellt Meints-Stenders Stellvertreter, der Bremer Politikwissenschaftler Lothar Probst klar: „damit eine Katastrophe wie im vergangenen Herbst sich nicht wiederholt“.
Ursache der Zwangspause ist der Rücktritt des Altvorstands unter Leitung der Gründungsvorsitzenden Antonia Grunenberg. Das vierköpfige Team hatte bei der Vereinssitzung im April hingeschmissen, weil es für seine Rolle im weltweit wahrgenommenen Gessen-Skandal teils scharf angegriffen worden war.
Kein Preis ohne Geld
Es hatte zuvor aber nicht die nötigen Mittel für eine Neuauflage der Ehrung bei den Preisgebern beantragt, der örtlichen Heinrich Böll-Stiftung und dem Bremer Senat. Als im Juni eine neue Vereinsführung gefunden und gewählt wurde, war es zu spät, um noch Geld zu beantragen.
„Wir danken dem bisherigen Vorstand für seine Arbeit“, sagt Meints-Stender im Gespräch mit der taz. Für die Zukunft des Preises müsse darüber nachgedacht werden, wie sich politisches Denken auszeichnen lässt, zu dem es ausdrücklich gehöre, „in der Öffentlichkeit streitbare Positionen zu beziehen“.
Diese müssten sich „auf die reale Welt beziehen – aber im Sinne der Menschlichkeit des Menschen“. Die nimmt allerdings, nach einem Bonmot aus Arendts Hamburger Lessingpreis-Rede (1959) in dem Maße ab, in dem auf das Denken überhaupt verzichtet und stattdessen auf Gemeinplätze gesetzt wird.
Als inhaltliches Kriterium ist das freilich schwer fassbar. Und es ist unwahrscheinlich, dass es im Fall Gessen etwas ausgerichtet hätte: Gessen ist durch mutige Bücher übers Putin-Regime und LGBTI*-Aktivismus in den USA bekannt geworden. Die – ab 2019 einsetzende Anti-Israel-Publizistik – hatte wenig Resonanz gefunden und war unterm Radar geblieben.
Bis Gessen dann in einem Essay im New Yorker Magazine, das wenige Tage vor dem geplanten Festakt im Bremer Rathaus erschien, den Gaza-Streifen mit den jüdischen Zwangsghettos in den von den Nazis besetzten osteuropäischen Städten gleich gesetzt hatte. Diese ausdrückliche Identifikation – Gessen sprach gegenüber der taz von sameness – sollte dazu dienen, die Gegenwehr Israels gegen den Angriff der Hamas am 7. Oktober zu skandalisieren.
Daraufhin hatten der Senat und auch die Böll-Stiftung die Veranstaltung abgeblasen. Statt im festlichen Rahmen der Halle des Bremer Welterbe-Rathauses wurde die Auszeichnung in einer Hinterhofgalerie im Bremer Viertel überreicht – bei der laut Gessen „seltsamsten Preisverleihung, an der ich je teilgenommen habe“.
Für Diskussionen oder gar kritische Nachfragen war da kein Platz. Und zu einem klärenden Wort hatte sich der Vorstand auch nicht bereit gefunden. abei war aus seinen Reihen der Vorschlag Gessen der Jury ohne Vorwarnung kurzfristig vor den Latz geknallt worden.
Um überhaupt eine Entscheidung zu fällen, hatte eine neue Sitzung einberaumt werden müssen, bestätigt Lothar Probst. Die mit der Entscheidung betrauten Fachleute hatten insofern Zeit, um sich einen oberflächlichen Eindruck vom Oeuvre zu verschaffen, das sie ehren sollten – nicht aber, um auch dessen Dreckecken auszuleuchten.
Solche Überrumpelungsvorschläge soll es unter Meints-Stenders Führung nicht geben. „Die Kommunikation zwischen Vereinsvorstand und Jury müssen wir unbedingt verbessern“, sagt sie. Auch die zwischen Jury und Öffentlichkeit: „Wir haben in der Satzung jetzt festgelegt, dass die einen Sprecher wählen muss“. Auch durch die Berufung neuer Jury-Mitglieder habe man versucht, für mehr Breite und zugleich eine höhere Sensibilität zu sorgen – gerade im Hinblick auf Antisemitismus.
Am deutlichsten belegt wird das durch den Namen und die Schriften des Schweizer Schriftstellers Alexander Estis, der aus einer russisch-jüdischen Künstlerfamilie stammt. Aber auch der dänische Minderheiten-Forscher Thomas Brudholm, ebenfalls neu in der Jury, kennt sich mit Erscheinungsformen des Hasses aus.
Gessen war kein Einzelfall
Tatsächlich war Gessen keineswegs die erste Person, die den Arendt-Preis trotz oder sogar wegen Dämonisierung des Staates Israel erhalten hatte. Judenhass bis hin zu Vernichtungsfantasien hatte der 2023 gestorbene italienische Bücherschreiber Gianni Vattimo, Preisträger 2002, artikuliert, allerdings in exzessiver Form erst Jahre nach seiner Auszeichnung.
Tony Judt, Historiker, der geradezu obsessiv Kritik an der Existenz Israels übte, erhielt ihn 2007. Étienne Balibar, BDS-Unterstützer, 2017. Dagegen nimmt sich die Preisträgerin von 2006, Julia Kristeva, die zuletzt zur EU-Wahl Europa zur Geschlossenheit gegen Antisemitismus aufrief, fast wie ein Ausrutscher aus.
Grigori Pantijelew, Stellvertretender Vorsitzender der Bremer Jüdischen Gemeinde setzt jedenfalls kein Vertrauen in die bisherigen Reformbemühungen des Arendt-Preis-Vereins: „Wenn das schon der Neuanfang gewesen sein soll, dann will ich Hannah heißen“, sagt er.
Termin wird geändert
Auch der Verweis auf andere Preisträger, die keine antizionistischen und judenfeindlichen Ressentiments artikuliert haben, heile das nicht: „Das bedeutet ja, dass es in Ordnung ist, wenn jeder dritte Preisträger Antisemit ist.“ Er befürchte, dass trotz einiger neuer Gesichter die Beteiligten „weiter machen wie bisher“.
Diese Skepsis nehme man ernst, sagt Waltraud Meints-Stender. „Wir werden uns im August mit dem Vorstand der Jüdischen Gemeinde treffen“, kündigt sie an. Auch die Terminfrage werde man angehen: Arendt selbst war 1906 in Hannover Linden in eine jüdische Familie geboren, die jüdische Tradition ist zentral für ihr denkerisches Werk.
Der Festakt zum nach ihr benannten Preis findet jedoch alljährlich Anfang Dezember an einem Freitagnachmittag statt – zu Beginn des Shabbat. Religiösen Juden ist es damit unmöglich, an der Veranstaltung teilzunehmen. „Ich denke, der Preis sollte an einem Sonntag verliehen werden“, sagt Meints-Stender. „Wie fast alle bedeutenden Preise.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Frauenfeindlichkeit
Vor dem Familiengericht sind nicht alle gleich