Netzkonferenz „re:publica“, 1. Tag: Sternenmensch und Schweinehälften
Die kleinste Wikipedia der Welt, der Mittelweg der künstlichen Dummheit und Diederichsens Weisheiten: Was man am Tag 1 der „re:publica“ lernen konnte.
Über 300 Referenten, zehn parallel bespielte Räume, unzählige Panels, Workshops, Get-Togethers, Gespräche. Der Versuch einer allgemeingültigen Zusammenfassung des ersten Tages der Internetkonferenz re:publica, die bis zum 8. Mai in Berlin stattfindet, ist so sinnvoll wie einen Wackelpudding an die Wand zu nageln. Oder sich ein einziges Logo für das gesamte Internet ausdenken zu wollen.
Es gibt nicht eben eine, sondern 5.000 re:publicas, für jeden Besucher eine, je nach Tagesplan, Vorlieben und Begegnungen. Aber jeder kann sich am Ende des ersten Tages die gleiche Frage stellen: Was habe ich heute eigentlich gelernt? Und genau das habe ich auch getan.
1. Es ist also doch möglich, einen Riesenkongress mit Internet zu versorgen. Ich hätte es nicht mehr geglaubt, aber zum ersten Mal hält auf der re:publica das WLAN und damit fällt endlich auch der älteste blöde Witz der Veranstaltung weg („Haha, eine Internetkonferenz ohne Internet“). Neu dafür: Schlangen. Schlangen am Einlass, bis auf die Straße, über eine Stunde müssen die Besucher am Vormittag warten. Schlangen am einzigen Capuccino-Stand. Schlangen am Frauenklo. Über den Frauenanteil muss man sonst aber keine Worte mehr verlieren, der war auch schon in den vergangenen Jahren höher als in jedem Internetklischee vorgesehen.
arbeitet als freier Journalist, Lektor und Redakteur, unter anderem für die taz und zeit.de.
2. Eröffnungsreden sind langweilig. Immer. Das ist auch kein Vorwurf, sondern eine Tatsache und da kann Johnny Haeusler, einer der vier Veranstalter, am Abend vorher noch so vielversprechend twittern. Es kommt dann so: Stage-Moderator Max stellt sich als Clown vor und das den Rest des Tages unter Beweis. Andreas Gebhard dankt allen Sponsoren, muss er, ist trotzdem öde und „Finanzblogging, ganz spannendes Thema“, also bitte.
Haeusler selbst erklärt, mit YouTube sei „eine neue Netzgeneration am Start“. Markus Beckedahl weckt das Publikum kurz mit lauten deutlichen, aber auch nicht direkt neuen Worten zur Netzneutralität auf. Und Tanja Haeusler sagt, dass das Kongressmotto „IN/SIDE/OUT“ eigentlich jedes Jahr das Motto sei und gibt so indirekt zu, wie austauschbar es ist. Dann bringt sie mit „Herzlich willkommen zu Hause“ zumindest einen merkenswerten Satz. Und es geht los.
3. Man kann bei Wikipedia keine Schweinehälften bestellen. „Das passiert, wenn die Leute mit dem Internet telefonieren wollen“, sagt Pavel Richter, Vorstand von Wikimedia Deutschland. Menschen lesen etwas in der Wikipedia und rufen dann die Nummer im Impressum von www.wikipedia.de an. Das mit den Schweinehälften ist eines der „10,5 Geheimnisse der Wikipedia“, ein Panel, das zwar launisch ist, aber auch ein wenig enttäuschend – zu sehr ist es nur eine Vorstellung der Wikimedia-Struktur und -Projekte, und das auch noch etwas verhaspelt vorgetragen.
Was ich aber dennoch gelernt haben: Anders Breivik hat die norwegischen Wikipedia-Artikel mehrerer Könige verfasst. Wikipedia ist eine der fünf größten Webseiten der Welt (wenn man Pornos rausrechnet). Je nach Jahr und Lexikon ist der Rhein 1.320, 1.360 oder 1.225 Kilometer lang – die deutsche Wikipedia sagt: 1.238 Kilometer.
Die Wikipedia hat 41 Chapter, das neueste: Armenien (die einzige andere Organisation, die ich kenne, die sich in Chapter gliedert, sind Rockerbanden). Die kleinste Wikipedia der Welt war die im nordnigerianischen Dialekt Kanuri, derzeit läuft gegen sie aber ein Löschverfahren. Und überhaupt werden jeden Tag rund 800 Artikel gleich wieder gelöscht, von 1.200 täglich verfassten.
Und dann gab es noch die Geschichte um //www.taz.de/Was-macht-eigentlich--Genosse-Stalin/%2170725/:„Stalins Badezimmer“. Angeblich war das ein DDR-Name der Berliner Karl-Marx-Allee, das hat sich ein Journalist bei einer Flasche Rotwein ausgedacht und 2009 in den Wikipedia-Artikel geschrieben. 2011 konnte man es dann nicht mehr löschen – weil es längst in zahlreichen Medien und Reiseführern stand, die aus der Wikipedia abgeschrieben hatten und nun als Quellen herangezogen wurden. Erst als der selbe Journalist seine Erfindung in einer Zeitung zugab, wurde diese Ente wieder zurechtgerückt.
4. Nutzer können erkennen, was sie wollen, aber sie können nicht erzeugen, was sie wollen. Diese Weisheit sollte beherzigen, wer im Feld der Mass Customization erfolgreich sein will. Also das, was vor Jahrzehnten mit individualisiert bestickten Handtüchern aus dem Moderne-Hausfrau-Katalog begann, in den 90ern mit selbstzusammenstellbaren Nikesneakern weiterging und inzwischen dank Internet zum individuellen Müslimix geführt hat.
Das heißt: Es ist besser, man setzt den Leuten durch Algorithmen erzeugte Produkte vor, die sie verwerfen können, als wenn man ihnen einen Stift und ein weißes Produkt gibt und sagt: Mach mal! Ausgesprochen hat das Kathrin Passig, die durch ihr als Spaßprojekt gestartetes Zufallsshirt eher nebenbei in den Mass-Customization-Bereich vordrang.
Hier werden T-Shirts semizufällig generiert, mit gemeinfreien Cliparts, Schriften und vorgefertigten Sätzen, in denen einzelne Satzteile zufällig bestimmt werden. „Den Mittelweg der künstlichen Dummheit“ nennt Passig dieses halbautomatische Verfahren. Und zum Schluss wird noch die Frage nach einer „Grammatik der Gegenstände“ aufgeworfen, mit der auch Customized Möbel möglich wären. (Disclosure: Ich bin mit Kathrin Passig befreundet, deswegen ist Zufallsshirt auch nicht verlinkt.)
5. Wenn man einen Stern malt und den oberen Zacken weglässt und dafür einen Kringel draufsetzt, ist es ein Mensch. Und wenn man ganz viele untere Zacken malt und oben ganz viele Kringel draufsetzt, hat man eine anonyme Masse. Das kann jeder. Und wenn man mehrere von diesen Tricks beherrschst, kann man Vorträge auch mit kleinen Zeichnugen statt mit rein schriftlichen Notizen zusammenfassen und so Wissen ansprechender festhalten.
Sketchnotes nennt sich der Workshop dazu, wir Teilnehmer malen uns dann gegenseitig, ohne aufs Blatt zu gucken. Wir lachen über das entstandene Krikelkrakel. Wir lernen einfache Dinge zu Speedlines und Schatten. Wir visualieren ein Video. Dann ist die Stunde rum und ich bin endlich wach. Das mit dem Sternenmensch funktioniert übrigens wirklich. Einfach mal ausprobieren.
6. „Kulturpessimismus ist wie Nackte abbilden“. Was das bedeutet, weiß ich nicht, denn ich habe kurz nicht aufgepasst. Genau wie „Das führt natürlich zur Entropie, aber bis dahin haben alle viel Spaß“ und „Die Subkultur hat andere Probleme als das Internet“. Aber es klingt toll. Und ist von Diedrich Diederichsen, über den Nilz Bokelberg auf Facebook schreibt: „Bei Diedrich Diedrichsen wünsch ich mir immer, dass ich den so als Papagei auf meiner Schulter sitzen haben könnte und der mir 24 Stunden popkulturelle Zusammenhänge ins Ohr reinerklärt.“
Diederichsen war der Gast von Mercedes Bunz, die immer da ist bei der re:publica und dieses Mal eigentlich ihr neues Buch vorstellen soll, aber stattdessen eigentlich nur Stichwortgeberin ist für Diederichsen. Als Oberthema wabern Kulturpessimismus und die Frage „Macht Google/macht das Internet uns dumm?“ durch den Raum – eine weit verbreitete Sorge, die Bunz ernst nehmen will, auch wenn das auf der re:publica wohl die wenigsten tun.
Und Diederichsen spricht: Es müsse nichts mehr erklärt werden durch das Internet, denn die Leute könnten ja nachschlagen – und das sei ja toll. Schon Friedrich Heubach habe sich 1987 in „Das bedingte Leben“ negativ über Stadtzeitschriften und Kontaktanzeigen ausgelassen – das könnte man heute immer noch lesen und einfach „Internet“ einsetzen. Der Satz „Irgendwann kann ich im Supermarkt mit meinem guten Aussehen bezahlen“ sei wahr geworden. Die Leute müssten sich mehr dekorieren, weil die Musik es nicht mehr tue. Sie müssten der Musik zur Kenntlichkeit verhelfen.
Und schließlich: Das Internet sei die völlige Neuorganisation von Raum und Materie – Bunz: Reden wir nicht viel zu wenig darüber? – Diederichsen: In den Anfangstagen, 1995, wurde ja nur über sowas geredet, jetzt gilt das als esoterisch.
7. Die Wurzeln des Internets liegen nicht in einer Garage, sondern in einer guten Stube. Und auch nicht im Silicon Valley, sondern in der Wrangelstraße in Berlin. Dort baute Konrad Zuse 1937 den Z1, den ersten Computer der Welt und die ganze Familie half mit, sein Vater sägte mit Laubsäge Bleche, 30.000 brauchte man davon.
Erzählt wird das alles von Zuses Sohn Horst, selbst Informatikprofessor, der offiziell über „Die Geschichte des Computers“ reden soll, aber in Wirklichkeit die Geschichte seines Vaters erzählt, Karikaturen zeigt, die Zuse Senior als Schüler zeichnete, später Zuse 1995 auf der Cebit mit Bill Gates. Und irgendwann gibt es ein Foto von einer Kneipe in Berlin-Wilmersdorf und Horst Zuse sagt „Da sitze ich mit meiner Frau, beim vierten Bier“ und schon sehen wir sein Arbeitszimmer, wo er nach seiner Pensionierung den Z3 von 1941, den „ersten funktionsfähigen Gleitkommarechner“ nachbaute. Der steht nun direkt neben dem re:publica-Gelände im Deutschen Technikmuseum. Verrückt.
Böse sein kann man Horst Zuse für so viel Selbstbezogenheit aber nicht, denn er spricht so entwaffnend einfach wie Klaus Wowereit, flucht seinen Computer an („Na, come on!“), zeigt am Ende ein Foto von seinem Vater am Schreibtisch, wie der seinem PC eine lange Nase macht. Auf die Frage, wann wir denn soweit sind mit Quanten-Computing, sagt Zuse. „Die Quanten sind sehr schwer zu händeln, das wird noch eine ganze Weile dauern.“
8. Sascha Lobo hat während der New-Economy-Zeit viel Zeit und Geld in einer Plattform gesteckt, wo man Benzin downloaden konnte. Hat nicht funktioniert. Das war aber ohnehin nur ein Fun Fact in seinem Überraschungsvortrag am Abend. Lobo kämpft mit der Technik, lästert über die Piratenpartei, zeigt jede Menge Hundefotos, lispelt (wie stets und ausschließlich bei der re:publica) und will schließlich das Wort „Netzgemeinde“ ehrenretten.
Er habe sich „mit dem Begriff Netzgemeinde angefreundet wie mit einem dreibeinigen blinden Hund. Sind wir eben die Netzgemeinde. Machen wir das beste draus.“ Und was ist diese Netzgemeinde nun? Eine „Hobbylobby für das freie, offene und sichere Internet (in den Grenzen von 1999)“. Danach setzt Lobo zum programmatischen Teil an, fordert Wut und Pathos im Kampf für Netzneutralität und andere Ziele. Und predigt: „Netzpolitik ist in erster Linie Politik und nur ganz ganz ganz wenig Netz.“
Denn die Netzgemeinde glaube zu sehr zu wissen, was gut und richtig ist und will davon kein My abweichen, was ein Fehler ist. Man müsse sich uns auf politische Art mit Anderen verbinden. „Ich fordere euch auf, zu machen“, sagt Lobo am Ende. Und zeigt, was er das letzte Jahr über gemacht hat: Er hat sich nämlich ein einziges Logo für das gesamte Internet ausgedacht.
(Disclosure: Ich bin auch mit Sascha Lobo befreundet, andere mögen seinen Vortrag schlechter oder toller gefunden haben. Oder ihn einfach aus Prinzip ablehnen.)
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