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Netflix-Serie „Sandman“Traumprinz ab 18

Er ist größer als ein Gott und dennoch geschunden: der Sandman, Herr der Träume. Netflix würdigt den großen Comic-Helden nun mit einer Serie.

Kein Mensch, kein Monster, kein Superheld: der Sandman Foto: Cr. Liam Daniel/Netflix

Drohende Weltuntergänge, Hotels voller Serienmörder und ein Duell mit dem Teufel: Viel dicker aufgetragen als in Net­flix’ neuem Fantasyblockbuster­ „Sandman“ geht’s kaum. Und irgendwie muss das wohl auch so sein, weil Lord Morpheus als Hauptfigur der Serie kein Mensch ist, kein Monster oder Superheld, sondern einer, zu dem selbst Göt­t:in­nen noch aufblicken: Er ist der leibhaftige Traum und der Bruder des Todes, der übrigens auch vorkommt – in einer Nebenrolle.

Vorlage der Serie ist Neil Gaimans Comic-Reihe „Sandman“, die ab 1989 bei DC erschien und in 75 Heften einen beachtlichen Rundumschlag durch ­Gothic-Ästhetik, Superhelden, Mythologie und Weltgeschichte vollführte. Und das mit Erfolg: Sandman zählt neben Alan Moores „Watchmen“ zu den Meilensteinen der Comicgeschichte, die das Superheldengenre revolutionierte und Comics erstmals auf Bestsellerlisten hievten.

Der Serienstart wurde entsprechend mit Spannung erwartet – und mit Ausdauer. Film- und Fernsehadaptionen des Stoffs sind seit 1991 mal mehr und mal weniger konkret im Gespräch. Dass sich neben David S. Goyer und Allen Heinberg nun auch Sandman-Autor Neil Gaiman selbst für die Produktion verantwortlich zeigt, ist der erste Glücksfall für das neue Format. Der zweite ist ein durch „Game of Thrones“ oder Marvel-Franchise heute auch an komplexere Nerdphantasien gewöhntes Publikum.

Die Ruhe ist den zehn Episoden der ersten Sandman-Staffel jedenfalls anzumerken: Nicht krampfhaft alles erklären zu müssen, sondern einfach mal drauflos zu erzählen. So kehrt Traumherrscher Sandman aus hundertjähriger Gefangenschaft bei einem Menschen heim ins Traumland und bringt seine Angelegenheiten in Ordnung. Er sammelt seine bei Dämonen, Superschurken und Dropouts verstreuten Zauberwerkzeuge ein und macht sich auf die Jagd nach flüchtigen Traumwesen in der Wachwelt.

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Trailer „Sandmand“

eine düstere, karge landschaft. Am horizont schimmert es orange. Der Himmel ist dunkel und grünlich. In der Mitte der Landschaft steht eine hagere Silouette.
eine düstere, karge landschaft. Am horizont schimmert es orange. Der Himmel ist dunkel und grünlich. In der Mitte der Landschaft steht eine hagere Silouette.

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Mindestens formal interessant ist dabei, wie sich die Netflix-Produktion den gröbsten Zwängen serientypischer Aufmerksamkeitsökonomie verweigert. Ohne wüstes Angeteaser und Cliffhangerei mäandert der Plot durch kurzfilmartige Episoden in ständig neuen Welten mit ständig neuem Cast. Morpheus’ Abwesenheit hat eben überall ihre Spuren hinterlassen: von der Hölle bis zum Altersheim nebenan. Und das erleben wir mal als okkultistische Fausterzählung, dann als Sitcom, Märchen oder Geistergeschichte – und dann wieder als blutigen Horroralbtraum mit FSK 18.

Schauspielerisch gerät das schlicht großartig: Boyd Holbrook als Oberalptraum „Korinther“ ist so grauenhaft wie supercool, Vivienne Acheampong als Sandmans Statthalterin Lucienne so pflichtbewusst wie umstürzlerisch – und Tom Sturridge ist ein spektakulär schweigsamer Sandman, der mit Mikrolächeln und dezent gehobener Augenbrauen die Selbstzweifel und Irrtümer einer nahezu allmächtigen Figur fühlbar macht.

Radikal subjektive Anteilnahme für die Bösen, Verwirrten, Verrückten

Dass der Cast dabei eine Spur diverser ausfällt als die Vorlage, hat im Vorfeld zu den üblichen Verstimmungen twitternder Nerds geführt: Tod als Schwarze Frau, Geisterjäger Constantine und der leibhaftige Lucifer von Frauen gespielt. Tatsächlich auffällig ist, dass die wenigen heteronormativen Zweierbeziehungen der Serie massive Krisen schieben: Die eine ist von Frühverwitwung und Verleugnung gezeichnet, die anderen beiden heißen nicht nur Barbie und Ken, sondern sind auch genau so.

Der Sandman ist woke

Der Witz ist nur: Das war im Comic gar nicht anders. Über 30 Jahre vor der „Woke“-Debatte hat Neil Gaiman mit großer Selbstverständlichkeit von homosexuellen Charakteren erzählt. „Desire“, ein Geschwister des Sandman, dürfte zu den ersten nonbinären Figuren der modernen Fantasy gehören.

Überhaupt nimmt die Erzählung immer wieder Abstand von ihrer allmächtigen Hauptfigur und arbeitet sich an den Ausgestoßenen und Verdrängten ab: den Waisen und Süchtigen, den Deklassierten und Misshandelten. Die radikal subjektive Anteilnahme für die Bösen, die Verwirrten und Verrückten ist das eigentliche Herz dieser Geschichte – und das gilt für die Netflixserie nicht weniger als für den Comic.

Allein: Dass die Umsetzung der Comicrevolution für den Bildschirm umgekehrt auch Filmgeschichte schreiben wird, ist zumindest ästhetisch nicht zu erwarten. Dagegen stehen die konventionelle Kameraarbeit, ein banaler Soundtrack und eine Traumwelt, die sich im Wesentlichen auf Rundflüge über dem CGI-Märchenschloss des Traumprinzen beschränkt.

Die Serie

„Sandman“, zehn Folgen auf Netflix

Schlimm ist das nicht, nur überraschend, wo doch verwandte Produktionen wie „Stranger Things“ oder Marvels „Doctor Strange“ inzwischen längst auch für ein Mainstreampublikum vorgemacht haben, wie psychedelische Bebilderung anderer Welten auch heute noch echten Mehrwert aus Film und Fernsehen ziehen können.

Aber sei’s drum. Die Geschichte ist großartig erzählt, traumhaft gespielt, hält ihren Kitschgehalt im Zaum und macht auf sonderbare Weise glücklich – obwohl sie eigentlich doch nur vom Unheil handelt.

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4 Kommentare

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  • Ich daxhte das ist die nächste blutarme Comicserie a la Netflix.... Der Text hat mich jetzt aber neugierig gemacht!!!

  • 0G
    04405 (Profil gelöscht)

    Die wichtigste Referenz oder eigentlich mehr Wegbereiter für Gaimans Sandman wäre Dave Sim und sein 300 Ausgaben schweres Epos Cerebus, weniger Alan Moore. Leider hat sich Sim durch "kontroverse" bis explizit und dezidiert misogyne Aussagen selbst komplett ins Aus geschossen - begünstigt dadurch, dass die Medienlandschaft Werk und Autor nicht trennen kann.

    Besonders bei einem Autor, der durch seine Borderline-Erkrankung zu sehr extremen und widersprüchlichen Reaktionen neigt. Tatsächlich hat aber schon Sim seinen Cerebus als "offenen Closet Homosexuellen" dargestellt und dürfte damit Anfang der 80er der Erste gewesen sein. "Does Cerebus want to be gay? No! Now that that's settled." Nichts ist geklärt.

    Wer es schafft, Sims Äußerungen korrekt einzuordnen oder wenigstens zu überhören, wird mit einem Meisterwerk belohnt, dass allerdings bisweilen sehr schwer zu ertragen ist. Denn er erspart sich und seinem Publikum rein gar nichts. Gleichzeitig die absolute Antithese zu "woke", aber inhaltlich durch schonungslose Offenheit wieder sehr "woke".

  • Ich würde die Sandman Comics nicht als "woke" bezeichnen, da weder Hautfarbe noch sexuelle Identität oder Orientierung in den Vordergrund gerückt und als Alleinstellungsmerkmal verwendet wurde. Sie waren einfach *da* und es war *normal* - vor allem wurde keine Überhöhung der "diversen" Charaktere gegenüber der sogenannten heteronormativen Mehrheit vorgenommen. Menschen (mehr oder weniger) wie du und ich.



    Auch Desire würde ich nicht als nicht-binär bezeichnen, da die Endless zu weit ab von unserem begrenzten Verständnis sind, um menschliche Konzepte darauf anzuwenden. Als was würde man Morpheus bezeichnen, der u.a. als marsianische und afrikanische Gottheit und später als Katze dargestellt wird? Racial- oder Spezies-Queer? ;-)



    Joanna Constantine taucht in den Comics auf, allerdings 200 Jahre früher als Ur-ur-...großmutter von John und mindestens genauso "kaputt" wie ihr Nachfahre. Ich glaube der Genderswap hat eher was mit Urheberrechten zu tun, die wohl immer noch bei CBS liegen für die Figur John Constantine - schade, den Darsteller aus der viel zu kurzen TV Serie hätte ich gerne wieder gesehen (Sorry Keanu, du bist leider nur 2. Wahl).



    Gwendoline Christie hat Lucifer allerdings nicht gut hinbekommen - sie kann wohl ähnlich wie Ryan Reynolds or Rock The Dwayne Johnson nur sich selber spielen. Schade an für sich. (Spoiler; im Comic ist Lucifer übrigens NICHT der Champion, sondern der Dämon tritt selber an).



    Aber, was weiß ich schon, denn ich habe die Serie nach der 4. Folge abgebrochen. Zuviel "Twilight" für meinen Geschmack. Ich schnapp mir lieber nochmal die Comics. Das ist übrigens meine Hoffnung, dass durch die TV Serie mehr Leute auf das Original aufmerksam werden.

  • Besser als erwartet. Highlight ist Episode 6 (The Sound of Her Wings), der Cliffhanger im Season Finale ist allerdings wirklich übel.