Netanjahus Besuch in Berlin: Wem gehört die Solidarität?
Israels Protestbewegung gebührt Bewunderung. Sie setzt ein Zeichen für demokratische Werte in einem illiberalen Zeitalter.

E in Staatsbesuch des israelischen Premierministers Benjamin Netanjahu bei der Bundesregierung steht ab Mittwoch an. Da fragt man sich: Warum? Warum wird ein Mann, der im Begriff ist, Israels demokratische Sphäre zu zerschlagen, der im Weißen Haus und zunehmend im eigenen Land nicht willkommen ist, nach Berlin eingeladen? Die übliche Erklärung lautet: aufgrund der engen Beziehungen, historisch bedingter Verantwortung und Solidarität. Doch wem in Israel gilt diese Solidarität?
Netanjahus neue Regierung hat eine sogenannte Justizreform auf den Weg gebracht, die das Oberste Gericht entmachten und damit jegliche juristische Kontrolle der Exekutive zunichte machen soll. Sie hat dabei eine landesweite, flächendeckende Protestbewegung ausgelöst, die mit beeindruckender Entschlossenheit die demokratische Sphäre in Israel zu verteidigen versucht. Selbst in jüdischen Gemeinden in Nordamerika und Europa wächst die Sorge. Der Star-Intellektuelle Yuval Noah Harari hat es bei einer Großdemo in Tel Aviv neulich treffend formuliert: In Israel bahnt sich ein Staatsstreich an, der von der Regierung selbst vorangetrieben wird.
ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Neueren und Neuesten Geschichte an der Universität Bremen.
Gegen diese Regierung begehren nun immer weitere Teile der Bevölkerung auf. Generäle, Ärzte, Ökonomen, Investoren, Richter, Polizeibeamte stellen sich gegen die endgültige Zerstörung demokratischer Freiheiten. Das sind überraschende, ermutigende Entwicklungen. Es entsteht ein neues demokratisches Bewusstsein. Mitten in der tiefsten Krise der israelischen Geschichte zeigen Hunderttausende Protestierende das Gesicht eines wiedererwachenden demokratischen Geistes.
Ihnen gehören Solidarität, Beistand, Bewunderung. Denn mit ihrer Entschlossenheit und ihrem Mut setzen sie ein Zeichen für demokratische Werte in einem illiberalen Zeitalter. Man kann nur spekulieren, was der Menschheit erspart geblieben wäre, wenn sich hierzulande Richter, Generäle und Großunternehmer ähnlich verhalten hätten vor genau 90 Jahren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Leistungsloses Einkommen
Warum Erben lieber über „Neid“ reden als über Gerechtigkeit
Anwälte vor Prozess gegen Daniela Klette
„Hier wird eine RAF 2.0 konstruiert“
Tödliche Schüsse der Polizei
Musste Najib Boubaker sterben?
Tod und Terror im Nahen Osten
Schweigen ist nicht neutral
Israels Krieg im Gazastreifen
Hunderte Tote nach zwei Tagen israelischen Bombardements
Israelischer Bruch der Waffenruhe
Im Gazastreifen öffnen sich die Tore zur Hölle