Nato-Chef Mark Rutte: Ölmännchen mit Teflonqualität
Mark Rutte wird Nato-Chef und hinterlässt in den Niederlanden einen Scherbenhaufen. Seinen Ruf hat er sich bei über 100 EU-Gipfeln erarbeitet.
Natürlich erschienen zu seinem Abschied nach 14 Jahren an der Spitze der niederländischen Regierung auch Kommentare, die besagten, man würde ihn durchaus vermissen. Das hat schlicht damit zu tun, dass in Den Haag nun die rechtspopulistische Partei für die Freiheit (PVV) des Anti-Islam-Agitators Geert Wilders das Zepter schwingt. Doch an ihrem Erfolg trägt Rutte eine gehörige Mitschuld, und zu dem Unmut, der sie jetzt an die Macht brachte, trug er entscheidend bei.
Zum Ende seiner Amtszeit vertrauten Rutte laut Umfragen nur noch rund 20 Prozent der Bevölkerung. Früher schienen die Skandale an Rutte einfach abzuprallen, was ihm den Spitznamen „Teflon-Mark“ einbrachte. Doch in den letzten Jahren wurde er zur Personifizierung grassierender Politikverdrossenheit. Sein Grinsen überstand freilich auch dies.
Die nächste Bestimmung auf seiner Karriereroute ist nun, wie schon länger erwartet, Brüssel. Nato-Generalsekretär, dieser Posten liegt nicht unbedingt auf der Hand, wenn man die erheblichen Kürzungen im Verteidigungsetat der Niederlande zu Beginn der Rutte-Ära betrachtet. Oder die Nato-Vorgabe von mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts, die erst an Ruttes Ende ein konkretes Haushaltsziel und pünktlich zu seinem Abtreten erstmals erreicht wurde. Auch machte sich Rutte vor seiner Zeit als Premier keinen Namen auf außen- oder verteidigungspolitischem Terrain.
Rutte nahm an 111 EU-Gipfeln teil
Was den 57-Jährigen in der turbulenten aktuellen Situation für die Nato interessant macht, sind seine Erfahrung auf internationalem Parkett sowie die Reputation, die er sich im Lauf von unter anderem 111 EU-Gipfeln erarbeitet hat. Rutte gilt als Brückenbauer und Vermittler. Als „wesentlicher Bestandteil des Europäischen Rats und der EU-Entscheidungsfindung seit 2010“ rühmte ihn der ebenfalls scheidende Ratspräsident Charles Michel unlängst nach seinem letzten Gipfel.
Auf Niederländsch nennt man die Rolle, die Rutte in den letzten Jahren in Brüssel spielte, „oliemannetje´“ Ein „Ölmännchen“ hat in seinem Werkzeugkoffer Schmiermittel für Beziehungen, die ansonsten rostig werden und eintrocknen, ist pragmatisch, kompromissorientiert und zugänglich.
Ruttes unkomplizierte Jovialität kennen Regierungschefs ebenso wie Journalist*innen oder Menschen, die er auf der Straße oder bei Arbeitsbesuchen trifft. In all den Jahren als Premier unterrichtete er wöchentlich eine Stunde Gemeinschaftskunde an einer weiterführenden Schule in Den Haag.
Rutte in Den Haag und Rutte in Brüssel, der Bruchpilot und der Brückenbauer, das scheinen auf den ersten Blick zwei verschiedene Welten zu sein. Selbst die Wochenzeitung EW, die seiner liberal-rechten Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (VVD) in der Regel zugeneigt ist, nannte seine Art des Auftretens zum Abschied „ambivalent“ und schrieb: „Die wahre Art von Rutte ist selbst nach seiner langjährigen Amtszeit als Rekord-Premier nicht deutlich.“ Ist er am Ende eine Art von Prophet, der im eigenen Land nichts gilt?
Unbeliebt machten Rutte in den Niederlanden vor allem zwei Skandale: erstens die „Kindergeld-Affäre“, bei der Tausende Bezieher*innen von Leistungen zu Unrecht des Missbrauchs beschuldigt und mit horrenden Rückzahlungsforderungen in existenzielle Probleme getrieben wurden, und zweitens die fortgesetzte Erdgasförderung in der Provinz Groningen.
Obwohl sie zu zahlreichen Erdbeben führte, setzten sich Rutte-Kabinette über die Ängste der lokalen Bevölkerung hinweg und erhöhten gar die Fördermenge, bevor das Gasfeld schließlich geschlossen wurde.
Tiraden auch gegen Brüssel
Hinzu kommt Ruttes „kreatives Verhältnis“ zur Wahrheit. Mehrfach behauptete er, an die fragliche Situation „keine aktive Erinnerung“ mehr zu haben. Ambivalent war Rutte, der in einem reformiert-protestantischen Haushalt als jüngstes von sieben Geschwistern aufwuchs und vor seiner politischen Karriere als Manager beim Nahrungsmittel- und Kosmetik-Konzern Unilever tätig war, auch gegenüber dem Rechtspopulismus in seinem Land.
Einerseits ließ er sich 2010 zunächst von Geert Wilders’ Freiheitspartei (PVV) tolerieren, als er mit einer Minderheitsregierung erstmals Ministerpräsident wurde – und er Wilders erstmals salonfähig machte.
Andererseits hielt der Pakt keine zwei Jahre, und Rutte galt Wilders seither vielfach als Lieblingsfeind und Vertreter des Establishments. Nicht selten versuchte Rutte auch, Wilders mit markigen populistischen Ausfällen das Wasser abzugraben und sich als Mann des Volkes in Stellung zu bringen. Mit diesen unbeholfenen Versuchen erinnerte er zuweilen ein wenig an die junge Angela Merkel, die wie Rutte anfangs gerne unterschätzt wurde und sich die Hausmacht in der eigenen Partei erst erarbeiten musste.
Rutte richtete seine Tiraden gelegentlich auch gegen „Brüssel“ und die politische Integration Europas. In der Eurokrise war er ein knallharter Verfechter von Austerität gegenüber Griechenland, forderte strikte Haushaltsdisziplin von südeuropäischen Mitgliedsstaaten und sperrte sich lange gegen den Schengen-Beitritt Bulgariens und Rumäniens.
Noch während der Covid-Krise gehörte Rutte zu den „Sparsamen vier“, und verwehrte sich gemeinsam mit Österreich, Dänemark und Schweden dagegen, zum Wiederaufbau der EU-Volkswirtschaften Schulden aufzunehmen.
Beste Freunde: Rutte und Selenskyj
In Südeuropa wurde er deshalb oft als bockiger, geiziger Neinsager gesehen. Dabei hatte er dieses Image längst abgelegt. 2014, nach dem Abschuss des Passagierflugzeugs MH17 über der Ostukraine, lernte er den Wert europäischer und internationaler Zusammenarbeit schätzen.
Als niederländischem Regierungschef fehlte ihm schlicht das Druckmittel, um gegenüber Moskau die Aufklärung zu fordern. Viele Beobachter*innen sehen „MH17“ daher als Wendepunkt in Ruttes Auftreten auf internationalem Parkett. Während seiner live im Fernsehen ausgestrahlten Abschiedsrede nannte er den Abschuss das „einschneidendste und emotionalste Ereignis“ seiner vier Amtszeiten.
In den Niederlanden, von wo 193 der 289 Opfer stammten, machte dies den politischen Diskurs zugleich besonders sensibel, was das russische Vorgehen in der Ukraine betraf. Auch deshalb beschlossen die Niederlande bereits im Frühjahr 2022 Panzerfahrzeuge an Kyjiw zu liefern. Inzwischen zählen sie zu den stärksten europäischen Befürwortern, der Ukraine auch F16-Kampfflugzeuge zur Verfügung zu stellen.
Das wiederum stärkte Ruttes Position in Osteuropa, als er sich für seinen neuen Posten an der Spitze der Nato in Stellung brachte. Kurz vor seinem Abschied aus Den Haag telefonierte er ein letztes Mal mit Kyjiw. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj machte später bekannt, er habe „seinem Freund Mark Rutte für alles gedankt, was er, seine Regierung und das niederländische Volk für die Ukraine getan haben“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
SPD-Linker Sebastian Roloff
„Die Debatte über die Kanzlerkandidatur kommt zur Unzeit“
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört
Kanzlerkandidat-Debatte
In der SPD ist die Hölle los