Nahverkehrszüge werden umgebaut: Zurück in die Vergangenheit
Weniger Rollstuhlplätze, Barrieren auf dem Weg zum Klo und fehlende Rampen: Niedersachsens Nahverkehr gibt ein Stück Barrierefreiheit auf.
Dort, wo bisher im Steuerwagen Klappsitze genügend Raum für Rollstühle ließen, sind nun auf beiden Wagenseiten feste Sitzplätze und ein Tisch installiert. „Als ich das gesehen habe, habe ich mich erst mal gewundert“, erzählt Kathrin D., „dann habe ich mich aufgeregt.“ Die Rollstuhlfahrerin fährt häufig Zug – und fürchtet nun um ihre Mobilität.
Zugfahren mit Handicap ist in Deutschland kein besonders großes Vergnügen gewesen; in Zügen der Deutschen Bahn können Rollstuhlfahrer*innen nicht spontan mitfahren, weil sie beim Einstieg auf Hilfe angewiesen sind; längst nicht alle Bahnsteige sind barrierefrei.
In den Bahnen der Firma Metronom, die etwa zwischen Hamburg und Hannover verkehren, und auch bei den ähnlich gebauten Nahverkehrszügen der Firma Start zwischen Cuxhaven und Hamburg war die Fahrt laut D. dagegen bisher vergleichsweise angenehm. Der Einstieg war selbstständig und daher auch ohne vorherige Anmeldung möglich, in den Wagen selbst gab es ausreichend Platz zum Rangieren. Gleich mehrere dieser Vorzüge werden nun zumindest reduziert.
Zuständig für die Entscheidung, wie Zugwaggons in Niedersachsen auszusehen haben, sind nicht die einzelnen Betreiberfirmen, sondern eine Landesbehörde, die Landesnahverkehrsgesellschaft Niedersachsen (LNVG).
Und die will mit dem neuen Design eigentlich Gutes tun für die Barrierfreiheit und eine europäische Richtlinie für Mobilitätseingeschränkte von 2014 endlich umsetzen; bis 2022 soll das geschehen sein: Unter anderem muss es für Rollstuhlfahrer*innen nun eine Rückenlehne zum Positionieren des Rollstuhls geben, eine Sprechstelle und eine Steckdose.
Und: Die neuen Richtlinien sehen vor, dass Begleitpersonen ab sofort einen Anspruch auf einen festen Sitzplatz haben – der Klappstuhl reicht nicht mehr. Mit den neuen Sitzen bleibt aber für einen dritten und vierten Rollstuhl kein Raum – zumindest nicht so, wie die LNVG die Abteile geplant hat. Streng genommen, so Altwig, dürften schon jetzt von den vier Plätzen wohl nur zwei gebraucht werden. „Und nach unserer Erfahrung reicht das auch“, sagt Altwig.
„Der Platz reicht nicht“, sagt D. – aus ihrer Erfahrung. „Es kann schon sein, dass laut Statistik im Durchschnitt 1,8 Rollstuhlfahrer*innen die Bahn nutzen. Aber in der Realität sind es halt manchmal mehr“, sagt sie. Sei es zu Stoßzeiten, wenn Pendler*innen unterwegs sind, durch eine zufällige Häufung oder schlicht, wenn mehrere Rollstuhfahrer*innen gemeinsam Urlaub machen.
Tatsächlich ist den Verkehrsbetrieben und der LNVG gar nicht bekannt, wie viele Rollifahrer*innen mit Metronom und Co fahren – weder im Durchschnitt noch bei Spitzenauslastung. „Bei den Verkehrszählungen wird nicht unterschieden nach körperlicher Beeinträchtigung“, erklärt Lars Kappel, Pressesprecher beim Verkehrsunternehmen Start. Wie groß der tatsächliche Bedarf ist, bleibt also Gegenstand des je eigenen Gefühls.
Die Maße stimmen – aber passen tun sie nicht
Dass weniger Rollstuhlfahrer*innen mitfahren können, ist indes für Kathrin D. längst nicht das einzige Problem der neuen Abteile. Wegen der fest installierten Sitze ist der Zugang zu den Behindertentoiletten enger als zuvor – für große Pflegerollstühle kann es so schwierig sein, durch die Lücke zu kommen.
„Die Maße entsprechen alle den Vorgaben“, entgegnet Altwig von der LNVG. Es gebe nur ein grundsätzliches Problem: „Die Pflegefahrstühle werden größer, aber die Züge werden es nicht.“ Aktuell sind die Metronom-Bahnen offiziell nur für Rollstühle bis zu 80 Zentimeter Breite und 1,25 Meter Länge zugelassen. Für Menschen mit beispielsweise Lähmungen reichen solche Stühle aber nicht immer aus. Sprich: die Vorgaben für Maße orientieren sich nicht am Bedarf.
Neue Steuerwagen ohne elektrische Rampe
Besonders gravierend empfindet D. die Verschlechterung beim Ein- und Ausstieg. Während viele alte Abteile nur umgerüstet werden, hat Metronom seit dem 20. Juli auch einen ganz neuen Steuerwagen im Einsatz – und in dem fehlen die elektrischen Rampen zum Ausstieg. An älteren Bahnsteigen, an denen der Übergang nicht ebenerdig ist, muss nun das Personal eine Rampe händisch anlegen. Aus gesundheitlichen Gründen können die Mitarbeiter*innen das aber auch ablehnen.
Die Vielfahrerin D. hatte bereits das Pech, den neuen Wagen bei einer seiner ersten Fahrten zu erwischen. „Ich musste fast am Bahnsteig stehen bleiben und den nächsten Zug nehmen“, erzählt sie. Zum Glück habe sich der Lokführer doch noch ihrer erbarmt.
„Richtig blöd wird das, wenn mehrere Rollstuhlfahrer mitfahren wollen“, sagt Kathrin D. Da der Weg von der Rampe ins Abteil nur möglich ist, wenn die Rampe wieder weg ist, müsste der*die Bahnmitarbeiter*in sie für jede*n einzeln an- und wieder ablegen. „Das sorgt jedes Mal für Verspätung“, prognostiziert D. Sie fürchtet, dass Metronom weitere neue Steuerwagen ohne elektrische Rampe einführen wird. Nicht zu Unrecht: Ein zweiter neuer Wagen soll noch dieses Jahr folgen, 2022 vier weitere.
Die LNVG argumentiert, der neue Einstieg verbessere die Barrierefreiheit – zumindest in einer Hinsicht: Die neuen Fahrzeugtüren bekommen eine sogenannte Spaltüberbrückung, die bei ebenen Bahnsteigen die Lücke zwischen Zug und Bahnsteig schließen soll – bis zu 25 Zentimeter sind das mancherorts. „Für Blinde wird das eine Verbesserung“, so Altwig. Für den Einbau einer elektrischen Rampe sei dann kein Platz mehr.
Dass Barrierefreiheit technisch zwingend gegeneinander ausgespielt werden muss, stimmt so nicht: In der Schweiz fährt der neue Gotthardzug mit einem ebenerdigen Einstieg für verschiedene Bahnsteighöhen; Ein- und Aussteigende müssen weder eine Lücke überspringen noch Stufen benutzen. Auch die Deutsche Bahn soll bald Züge bekommen, die nach einem ähnlichen Prinzip funktionieren. Freilich nur für den ICE – für den gewöhnlichen Feld-Wald-und-Kleinstadtzug gelten weiter andere Regeln.
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