Nahostkonflikt: Nicht eure Netflix-Serie
Unbetroffene schauen auf Israel und Palästina wie einen twistreichen Fernsehthriller. Den Menschen vor Ort hilft das nicht.
W ährend die Verhandlungen für einen Deal zwischen Israel und der Hamas stocken und am Wochenende sechs israelische Geiseln in einem Tunnel unter Rafah tot aufgefunden wurden, starrt der Westen gebannt auf seine Bildschirme – als ob er den nächsten Plot-Twist einer Netflix-Serie erwartet.
Sollte aber dieser wahre Albtraum je vorbei sein, werden wir uns wohl nie gänzlich davon erholen – weder als Täter noch als Opfer. Auch die brutale Realität von Millionen unfreiwilliger Protagonisten wird sich nicht so schnell ändern.
Das Massaker vom 7. Oktober ereignete sich nach Monaten, in denen es so aussah, als stünden wir in Israel am Rande eines Bürgerkriegs. An diesem Morgen brach tatsächlich alles zusammen. Der Staat versagte. Das Gefühl von Sicherheit bei vielen Israelis war zerbrochen, alles fühlte sich paranoid, gleichzeitig aber auch möglich an. Das tut es immer noch.
Neben der konkreten Angst vor Ort auf beiden Seiten entpuppten sich aber jenseits des Krieges überraschend viele schaulustige Beobachter als ethisch instabil, besessen von Virtue Signaling und vereinfachenden Aussagen, die nur die eigenen moralischen Werte zur Schau stellen sollen, aber niemandem helfen.
Ein moralischer Bankrott
Eine Bekannte postete kurz nach dem Hamas-Angriff, dass man kürzlich nach Berlin gezogene Israelis überall ausgrenzen sollte – aus Ausstellungen, Bars, Partys oder beim Sex. Ein Schauspieler wurde ermutigt, die Zusammenarbeit mit einem israelischen Theaterkollegen zu beenden, der seit Langem in Deutschland lebt und sich für Frieden einsetzt. Andere Israelis wurden angespuckt, weggeschickt, ausgeladen – die Liste ist lang. Dieses Verhalten ist nicht de-kolonialisierend, sondern ein moralischer Bankrott.
In progressiven „Safe“ Spaces ist für Israelis Ausgrenzung üblich geworden. Sie wird begleitet von ideologischen Reinheitstests, um zu prüfen, ob man „koscher“ ist – trotz der „falschen“ Identität. War nicht diese Einsamkeit, von einem Tag auf den nächsten von Mitmenschen ausgeschlossen zu werden, doch etwas, wovon unsere Großeltern uns erzählten?
Diese Serie läuft schon seit zwei Jahrtausenden. Und die antisemitischen Tropen sitzen bis heute fest in den Köpfen einiger Linker, die Israelis pauschal verdächtigen. Andere schweigen zu den Verdächtigungen ihrer Genossen – aus Solidarität mit den Palästinensern. Solidarität brauchen auch die Palästinenser, unbedingt! Solche Ausschlüsse widersprechen aber der Komplexität der Lage.
Es ist nicht progressiv, die Lage in Gaza, den besetzten Territorien oder den 7. Oktober zu ignorieren. Ebenso wenig, die Abschaffung eines 76 Jahre alten Landes zu fordern. Wörter werden herumgeworfen, ohne wirklich Rechte zu schützen, Daten zu kennen oder Machtstrukturen zu prüfen – ob „Apartheid“, „Genozid“ oder „Intifada“. Israel als Kolonialprojekt darzustellen, zielt letztlich darauf ab, sein Existenzrecht zu untergraben. Und Konfliktlösungen entstehen nicht durch Umschreiben der Geschichte in nuancenlosen Unsinn.
Eine antisemitische Evolution
Die ultranationalistische Netanjahu-Regierung und die Suprematisten in den Siedlungen erschweren die Argumente für progressive Israelis. Dabei gibt es klare Unterschiede zwischen Antisemitismus und legitimer Kritik an Israels Regierung oder Geschichte. Kritik an der Instrumentalisierung des Holocausts ist legitim, Zionismus selbst als Holocaust umzudeuten ist es nicht. Dies ist keine semantische Re-Evaluation – es ist eine antisemitische Evolution.
Israels komplexe Geschichte kann man nicht in eine vereinfachte Handlung von gut oder böse zwängen. Der aktuelle Diskursextremismus dient den Egos und Interessen vieler, aber nicht den Palästinensern oder Israelis selbst, die zusammenleben müssen. Die Debatte, wie sie hier in Deutschland und an anderen Orten weltweit geführt wird, ist in Wahrheit eine kolonialistische Geste par excellence – alle wollen besserwissend mitreden, über die Serie, die sie eifrig mitverfolgen, die aber nichts an ihrem eigenen Leben ändert.
Was würde stattdessen helfen? Polemische Zeiten erfordern größere intellektuelle Klarheit. Deeskalationswissen und dialektische Fähigkeiten sind die Grundlage von Diplomatie. Wir brauchen Antworten und Garantien für Palästinenser und Israelis, für Sicherheit und Hoffnung und einen Diskurs, der dies ermöglicht – nicht einen, der selbst zur Eskalation beiträgt.
Es ist zu spät für die unzähligen Zivilisten in Gaza, die tot sind, traumatisiert, schwer verletzt auf der Flucht. Ebenso für die sechs Geiseln, die von der Hamas hingerichtet wurden. Friedensbewegte Israelis und Palästinenser brauchen Verbündete außerhalb des Nahen Ostens, die differenzieren – und keine Bingewatcher, die nur auf den nächsten Cliffhanger warten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestellerautor will in den Bundestag
Nukleare Drohungen
Angst ist ein lautes Gefühl
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland