Nahost-Konflikt in Deutschland: Wann, wenn nicht jetzt?
Der Comedian Abdul Chahin sagt, er würde den Bezug zur Community nie riskieren. Frei ist aber nur, wer sich von der eigenen Gemeinschaft emanzipiert.
Chahin sagt, er fände es schockierend, dass es in seiner, „in der palästinensischen Community so viel Verständnis für die Hamas gibt“.
Gleichzeitig sieht er – auch für sich persönlich – die palästinensische Community als einzigen „sicheren Rückzugsort“, und zwar deswegen, „weil die Mehrheitsgesellschaft uns so ablehnt“. Seinen „Community-Bezug“ werde er „niemals riskieren“. Schon „ein dummes Missverständnis“ könne einen den Zugang kosten, „dann bist du niemand und hast nichts“. Und schlimmer: Wer die Community verärgert, der müsse damit rechnen, nur noch mit „Personenschutz“ durch die Straßen laufen zu können.
Dieses Risiko, von den eigenen Leuten – oder auch von den Vertretern der Mehrheitsgesellschaft, das wird nicht ganz klar – attackiert zu werden, wolle er für eben diese Mehrheitsgesellschaft, die ihn ablehne, nicht eingehen: Ein Risiko allerdings, das, wie Chahin im Gespräch selbst feststellt, für seine jüdischen Freunde in Deutschland spätestens seit dem Massaker vom 7. Oktober und der militärischen Antwort Israels Alltag sei – wenn sie denn auf den gefährlichen Gedanken kämen, die Zugehörigkeit zu ihrer Community durch Kippa, Davidstern oder ein paar zu laute Worte am Telefon auf der Straße oder in der U-Bahn zu offenbaren.
Realistisch und ehrlich
Was Chahin da sagt, ist einerseits offensichtlich realistisch; und wenn derzeit etwas gebraucht wird, dann ist es Realismus in der Beurteilung der Lage.
Was es nicht braucht, sind Gratisaufrufe von rund um die Uhr beschützten Repräsentanten des Staates, sich schützend vor jüdisches Leben zu stellen, während die Polizei, über deren Einsätze ebendiese Repräsentanten bestimmen, nicht mal den sicheren Zugang zu einem „koscheren Restaurant“ gewährleistet, weil das nicht die gewünschten autoritär-versichernden Bilder liefert wie Polizei vor einer Synagoge. So hat die Schriftstellerin Deborah Feldman zuletzt in der Talkshow von Markus Lanz und in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau von ihrem ungeschützten Berliner Lieblingsrestaurant berichtet, vor dem 7. Oktober ein Ort der Toleranz, „im Prinzip meine Gemeinde“.
Chahin ist aber nicht nur realistisch, er ist auch ehrlich, und zwar in Bezug auf sein Verständnis von Freiheit. Er will sich nicht aus seiner Community lösen, weil die Alternative dazu sei, „niemand“ zu sein. Und er wagt den Bruch auch deswegen nicht, weil das Gefahr bedeuten würde.
Mit anderen, realistischen Worten: Abdul Kader Chahin ist Mitglied einer Sekte. Sie in Richtung einer unbestimmten, ja feindlichen Umgebung hin zu verlassen, würde die Art von Entschlossenheit erfordern, die der Popkanon auf die Zeile gebracht hat: „Freedom’s just another word for nothing left to lose“; und jene Art von Mut, die alle brauchen, die sich Abweichung nicht straflos hinnehmenden Systemen entziehen wollen – vom Iran über den bis vor Kurzem von der Hamas als Gefängniswärter kontrollierten Gazastreifen bis hin zu Putins Russland.
Das sind gewiss radikale, problematische Vergleichsgrößen.
Zuerst das Eigene
Wenn allerdings klar ist, dass nach dem Massaker vom 7. Oktober und der israelischen Reaktion darauf – gegen die zu protestieren selbstverständlich möglich sein muss und auch ist – alle Lügen der deutschen Integrationswindel geplatzt sind und es entsprechend stinkt: Wann, wenn nicht jetzt, wäre radikaler Realismus angebracht? Wann, wenn nicht jetzt, ist der Moment, alles auf den Tisch zu packen, wenn wir dieses Land nicht den Hetzern und Lügnern à la AfD, Merz und Aiwanger überlassen wollen?
Mein Kollege Volkan Ağar hat deswegen am Wochenende in der taz eben genau jetzt „massenhafte Einbürgerung“ gefordert und vollkommen zutreffend ausgeführt, rechtliche Ungleichbehandlung habe begünstigt, „dass sich viele Menschen weder mit dem deutschen Staat noch mit irgendeiner Art von Staatsräson identifizieren“.
Die andere Seite der Medaille ist, dass es für freie Menschen, insbesondere für kritische Intellektuelle, immer zuerst das Eigene sein muss, das individuelle und das gemeinschaftliche, das eigene Ich und die eigene Familie, welche hinterfragt werden müssen: Es gibt keine Freiheit in einer palästinensischen Community, die von Unfreiheit bestimmt wird. Wer die Tür nicht aufstößt, weil es draußen gefährlich sein könnte, ist ein Gefangener, kein solidarisches Mitglied einer Gemeinschaft.
Mit rechtlosen wie mit gefangenen Menschen können Interessierte viel Böses anfangen: Nur eine demokratische Gesellschaft – die lässt sich mit ihnen nicht begründen.
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