Nachwirkungen des G20-Gipfels: Grundrechte missachtet
Körperverletzung, Bedrohung, Nötigung: Gegen 49 Polizisten laufen Verfahren. Amnesty kritisiert Hamburgs Bürgermeister Scholz.
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Knapp einen Monat nach dem Hamburger G20-Gipfel dauert die Aufarbeitung des fragwürdigen Agierens der Polizei an. Dazu gehört auch die irrtümliche Festsetzung eines von dem SPD-nahen Kinder- und Jugendverband organisierten Busses, mit dem 44 Jugendliche aus dem Ruhrgebiet zur großen Anti-G20-Demonstration am 8. Juli fahren wollten – doch stattdessen in der Gefangenensammelstelle (GeSa) in Hamburg-Harburg landeten.
Der Grund: Dummerweise verwechselte die Polizei aufgrund eines Übertragungsfehlers des Kennzeichens den Bus und hielt seine bunt gekleideten InsassInnen – neben Falken auch Mitglieder der Grünen Jugend, der DGB-Jugend und der Alevitischen Jugend, darunter auch mehrere Minderjährige – für gefährliche gewaltbereite Autonome.
Die Folge: Der Falken-Bus wurde noch auf der Autobahn abgefangen. Ohne Angaben von Gründen wurden die jugendlichen DemonstrantInnen in die GeSa gebracht. Dort wurden sie einzeln abgeführt, meistens im festen Griff von jeweils zwei Beamten. Mehrere mussten Leibesvisitationen über sich ergehen lassen. Einige mussten sich dafür splitternackt ausziehen, andere bis auf die Unterhose. Bei den Toilettengängen mussten bei allen die Türen offen bleiben. Die Kontaktaufnahme zu einem Anwalt wurde ihnen verweigert. „Sie können ja später klagen“, beschied ein Polizist dem konsternierten Paul Erzkamp.
Gut vier Stunden dauerte der unfreiwillige Aufenthalt. Dann bemerkte die Polizei – wohl auf Intervention führender Hamburger SPD- und Grünen-PolitikerInnen – ihren peinlichen Irrtum. Jetzt ermittelt die Staatsanwaltschaft.
Die Entschuldigung, dass die Polizeiaktion eigentlich nicht ihnen, sondern einem anderen Bus gegolten habe, finden die Falken befremdlich. Denn das heiße ja: „Die Verletzung der BürgerInnenrechte war geplant, sollte nur andere Menschen treffen.“ Der Verband fordert eine lückenlose Aufklärung und Konsequenzen für die Verantwortlichen – und zwar nicht nur in seinem eigenen Fall.
Beeindruckende Menge an Videos und Berichten
„Auch wenn es in der führenden Politik in Hamburg und in Teilen der breiten Gesellschaft niemand wahrhaben möchte: Die Polizei hat mehrfach unberechtigt Gewalt angewendet, Grundrechte missachtet und damit BürgerInnen, JournalistInnen und friedliche DemonstrantInnen verletzt“, konstatierte Anna Cannavo aus dem Falken-Landesvorstand, die ebenfalls in dem gestoppten Bus saß.
Unmittelbar nach dem G20-Gipfel hatte sich Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz vollmundig hinter die Polizei gestellt. „Polizeigewalt hat es nicht gegeben, das ist eine Denunziation, die ich entschieden zurückweise“, verkündete der Sozialdemokrat. Dabei hätte ihn alleine schon ein Blick auf die Webseite G20-Doku.org, die eine beeindruckende Menge an Videos und Berichten über Polizeiübergriffe gesammelt hat, eines Besseren belehrt.
So scheinen denn auch die 49 Ermittlungsverfahren, die inzwischen gegen Beamte eingeleitet wurden, nur die Spitze des Eisberg zu sein. In 41 der Fälle lautet der Vorwurf Körperverletzung im Amt. In den anderen geht es um Bedrohung, Nötigung, sexuelle Belästigung, Beleidigung und Verletzung des Dienstgeheimnisses.
In einer aktuellen Stellungnahme kritisiert Amnesty International Scholz deutlich. Dass er keine Polizeigewalt gesehen haben will, sei „nicht nachzuvollziehen“. Statt Kritik pauschal abzuwehren, sollten Polizei und Politik sich lieber „konstruktiv damit auseinandersetzen und die nötigen Konsequenzen daraus ziehen“.
Der Umgang mit den Vorwürfen gegen die Polizei rund um den G20-Gipfel zeige, „wie sich das Fehlen unabhängiger Untersuchungsmechanismen für polizeiliches Fehlverhalten auswirkt“, beklagt die Menschenrechtsorganisation. Dabei forderten UN-Gremien wie der Menschenrechtsrat, die Humanistische Union, das Deutsche Institut für Menschenrechte und auch Amnesty International seit Jahren schon, „dass es in Deutschland Gremien außerhalb der Polizeibehörden geben muss, die Beschwerden entgegennehmen und strafrechtliches Fehlverhalten untersuchen können.“
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