Nachruf auf Hans Magnus Enzensberger: Zeitlebens heiteres Kind
Hans Magnus Enzensberger ist gestorben. Er hatte eine Ader fürs Spielerische im besten Sinn und war ein ganz und gar geistesgegenwärtiger Autor.
„Spielen Schriftsteller eine Rolle? – Das ist zu befürchten.“ So begann die erste der vier Frankfurter Poetikvorlesungen, die Hans Magnus Enzensberger 1964/65 gehalten hat. Dass der damals gerade 34-Jährige mit dieser Eröffnung auch von sich selbst sprach, versteht sich, auch wenn er im weiteren Fortgang der Vorlesung alle denkbaren Rollenzuweisungen für Schriftsteller ablehnt.
Dieser Autor aber hatte von Beginn an kaum eine andere Möglichkeit, als eine Rolle zu spielen, und die erste hieß „zorniger junger Mann“. Was die Briten hatten, damals in den fünfziger Jahren, hatte die alte Bundesrepublik spätestens 1957 mit dem Gedichtband „verteidigung der wölfe“ auch, noch dazu in avantgardistischer Kleinschreibung, gefolgt von „landessprache“ mit dem berühmten Titelgedicht.
Als der zornige junge Mann sich nach seiner frühen Lyrik auch mit brillanten Essays zu Wort meldete, 1962 in dem Band „Einzelheiten“ zusammengefasst, besetzte er das Fach des „kritischen Intellektuellen“, und zwar lange Zeit auf einsamer Höhe. Das hat er bis zuletzt nicht verlassen, mag sich später der eine oder andere auch zu ihm gesellt haben.
Hans Magnus Enzensberger führte, wie es sein erster Biograf Jörg Lau im Untertitel seines Buches treffend formulierte, fast von Beginn an „ein öffentliches Leben“, auch wenn dieses paradoxerweise in der Grauzone des Schwarzmarkts begann, auf dem der Jugendliche in den Nachkriegsjahren aktiv war.
Angebliche Selbstinszenierung
Aus diesem öffentlichen Leben hat man oft und gern falsche Schlüsse gezogen und aus diesen Schlüssen Vorwürfe formuliert. Der eine betrifft die angebliche Selbstinszenierung des Autors. Derer hat es aber gar nicht bedurft, denn über Hans Magnus Enzensberger ist so viel geschrieben, gesagt und getratscht worden, dass er selbst sich mit Wortmeldungen zur eigenen Person weitgehend zurückhalten konnte.
Das Gerücht etwa von „seiner jahrelangen Tätigkeit als Ratgeber bei Fidel“, Fidel Castro also, entstammt nicht eigenen Aussagen, sondern Lars Gustafssons Roman „Herr Gustafsson persönlich“, der als Roman natürlich am Mythos arbeiten durfte.
Doch selbst ein so kluger Essayist wie Christian Linder beschrieb Enzensberger in einem Porträt aus dem Jahr 1975 als jemanden, der vor allem mit seinem eigenen Mythos beschäftigt und dem die ganze Welt dazu nur Anlass gewesen sei: ganz so, wie Carl Schmitt es in seinem Occasionalismus-Vorwurf gegen die Romantiker beschrieben hatte.
Plädoyer für Hauslehrer
Diese These hält einer Überprüfung der zahlreichen Texte Enzensbergers und namentlich der Essays nicht stand. Die Mehrzahl von ihnen weist einen deutlichen Realitätsbezug und eine ebenso deutliche Unterscheidungsfähigkeit zwischen Innenwelt und Außenwelt auf, ob es sich nun um das nach wie vor sehr lesenswerte „Plädoyer für den Hauslehrer“ handelt oder die „Zwei Randbemerkungen zum Weltuntergang“.
Dass der eine oder andere Schuss daneben ging, wie bei seiner Charakterisierung Saddam Husseins, ist ebenso verzeihbar wie der harmlos-reaktionäre Tenor jenes „Nekrologs auf die Mode“, der 1993 in der Neuen Zürcher Zeitung erschien und niemandem wehtat.
Aber der schwerer wiegende Vorwurf, den man ihm gemacht hat, war ja der des Opportunismus und des ständigen Standpunktwechsels. Die Studentenbewegung etwa konnte ihm nicht verzeihen, dass er nicht mit roter Fahne ihren karnevalesken Umzügen durch den Wedding oder Neukölln vorangeeilt ist. Doch für alle kollektiven Räusche war dieser Autor schon seit seiner Kindheit, die er in der Stadt der Reichsparteitage verbrachte, verloren.
Das Land bewohnbar machen
„Ich bin keiner von uns“, lautet eine seiner berühmtesten Zeilen (aus dem Gedicht „Schaum“), und es ist eine vergröbernde Lesart, dies als Variation auf Brechts „In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen“ zu entziffern. Denn davon abgesehen, dass Standpunkte per se unfruchtbare, weil statische Verortungen sind und Meinungen reichlich irrelevant, war die zuweilen hinter dem Opportunismusvorwurf lauernde Anklage des „Verrats“ absurd. Im Gegensatz etwa zu manchem prominenten Ex-68er hat Hans Magnus Enzensberger zeit seines Lebens darauf bestanden, 1968 habe „dieses Land erst bewohnbar gemacht“.
Vielleicht ist ja allein die Aussage, dieses Land sei bewohnbar, einem gestandenen Fundamentalisten ein Dorn im Auge. Zu den durchgehenden Haltungen von Hans Magnus Enzensberger – ja, die gab es! – gehörte jedoch die Abneigung gegen Fundamentalismen aller Art ebenso wie eine mit den Jahren ständig wachsende Menschenfreundlichkeit gegenüber den sogenannten normalen Menschen, zu denen er selbst gewiss nicht gehörte.
Dass er die Tendenzen der Zeit oft sehr früh erkannt hat, dem Zeitgeist also vorausgeeilt und ihm nicht hinterhergejagt ist, lässt sich schwerlich als Opportunismus denunzieren. Vielmehr hat das etwas mit wacher Intelligenz und analytischer Begabung zu tun, zwei seiner hervorstechendsten Merkmale. Das dritte war das, was Henning Marmulla in seiner gründlichen Studie zur Geschichte des Kursbuchs Enzensbergers Internationalismus genannt hat und was man ruhig auch seine Weltläufigkeit nennen könnte.
Großintellektueller und Gründer
Seine berühmten Zeit- und Generationsgenossen, von Grass über Walser bis zu Johnson, waren doch sehr schwerblütig-deutsch, in ihrem Habitus ebenso wie in ihrer Schreibweise. Der Lyriker Hans Magnus Enzensberger dagegen bewegte sich nach eigenem Bekunden in der „Weltsprache der modernen Poesie“. Und er bewegte sich tatsächlich auf internationalem Parkett mit einer Selbstverständlichkeit, die dazu beigetragen hat, dass er im Ausland schon sehr früh als der deutsche Intellektuelle galt.
Indes hieße es seine Bedeutung verkürzen, würde man ihn auf diese Figur des Großintellektuellen und des Gründers von zu ihrer Zeit bedeutenden Zeitschriften wie dem Kursbuch oder der TransAtlantik reduzieren. Enzensberger war auch ästhetisch außerordentlich wichtig, weil er inmitten des Siegeszugs des guten alten Romans der Vertreter anderer, gebrochenerer und intelligenterer Formen war.
Selbst seine beiden Romane, „Der kurze Sommer der Anarchie“ und „Hammerstein oder der Eigensinn“, hatten mit jener biederen Romanprosa, die bei uns zu gleicher Zeit mit Buchpreisen bedacht wurde, nichts zu tun. Sie waren vielmehr gelungene Belege für die These, die der Autor in seinem Essay „Nomaden im Regal“ aufgestellt hatte: „Es sieht ja ganz so aus, als könnten es mit einer zunehmend hybriden Welt nur noch hybride Texte aufnehmen.“ Von solchen gelungenen Hybriden, die nicht nur die Herzen, sondern auch die Köpfe der Leser ansprachen, verdanken wir ihm einige.
Untergang der Titanic
In einem Interview aus dem Jahr 1995 hat er auf die Frage nach seiner bedeutendsten Schöpfung das Langgedicht „Der Untergang der Titanic“ genannt. Oft schätzen Autoren die Gewichtung und Bedeutung ihres eigenen Werks fundamental falsch ein. Auch hier bildete Enzensberger eher die Ausnahme, denn liest man diesen großen Gesang noch einmal, in seiner formalen Souveränität und der ganzen Vielfalt von der Klage und Trauer über die Ironie und unverblümte Komik bis zu nüchterner Gegenwärtigkeit, kann man sich seiner Selbstbeurteilung wohl anschließen.
Was das lyrische Werk angeht (das in der Rezeption ungerechtfertigterweise zunehmend in den Hintergrund getreten ist), müsste man dem Titanic-Gedicht allerdings jene 37 Balladen aus der Geschichte des Fortschritts zur Seite stellen, die drei Jahre zuvor unter dem Titel „Mausoleum“ erschienen waren. Eine der schönsten Balladen aus diesem Band, diejenige über Frédéric Chopin, beginnt mit der Feststellung: „Ein heiteres Kind: soviel wissen wir.“
Das ließ sich von diesem Autor bis ins hohe Alter sagen. Hans Magnus Enzensberger war ein Autor mit einem Sinn fürs Spielerische im besten Sinn, und er war ein ganz und gar gegenwärtiger, ja geistesgegenwärtiger Autor. Ihm darf man – bei aller Eitelkeit, die jedem Schriftsteller eigen ist – deshalb unbesehen glauben, was er 1998 Herlinde Koelbl in einem Interview auf die Frage gesagt hat, wie er denn in Erinnerung bleiben möchte: „Die Nachwelt ist nicht meine Sache. Das sollen die Nachkommen unter sich ausmachen.“
Aber gerade weil er so gegenwärtig, so ganz und gar Zeitgenosse war, könnte es sein, dass wir, die Nachkommen, seine Stimme sehr schnell vermissen werden, vielleicht schon ab diesem Moment. Am 24. November ist Hans Magnus Enzensberger im Alter von 93 Jahren in München gestorben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste