Nachruf auf Fethullah Gülen: Das Ende von Erdoğans Erzfeind
Der Chef der wichtigsten islamischen Bewegung der Türkei wurde vom Mitstreiter des Präsidenten zu seinem Widersacher. Nun ist Fethullah Gülen gestorben.
Fethullah Gülen wurde 83 Jahre alt. Über Jahrzehnte war er der unangefochtene Chef der islamischen Hizmet-Bewegung (Hizmet = dienen), die in der türkischen Öffentlichkeit zumeist nur „Cemaat“ (Gemeinde) genannt wird.
Er entwickelte sich von einem einfachen, staatlich angestellten Imam zum einflussreichsten islamistischen Prediger der Türkei, der nach einer langen Phase intensiver Zusammenarbeit mit Erdoğans AKP zuletzt einen erbitterten Machtkampf gegen diesen führte. Erdoğan warf Gülen vor, den Putschversuch im Sommer 2016 initiiert zu haben.
Nach Außen stellt die Hizmet-Bewegung sich selbst als harmlose Bildungsorganisation dar, die für den Dialog der Religionen wirbt und sich dem Westen gegenüber aufgeschlossen gibt. Kritiker wiesen, unterstützt durch Aussagen von Aussteigern, jedoch nach, dass es sich im Kern um eine reaktionär-chauvinistische Sekte handelt, die zum Ziel hat, die Macht in der Türkei zu übernehmen.
Gülen-Bewegung unterstützte AKP ab 2003
Seit dem Putschversuch wird die Gülen-Bewegung in der Türkei als Terrororganisation verfolgt. Gülen selbst, der eine Beteiligung immer bestritt, hatte sich bereits 1999 in die USA abgesetzt, als in einem heimlich mitgeschnittenen Film deutlich wurde, wie er seine Anhänger aufforderte, den türkischen Staat zu unterwandern.
Als Erdoğans AKP bei den Wahlen 2003 die absolute Mehrheit errang und alleine eine Regierung bilden konnte, stand sie vor einem Dilemma. Die neugegründete Partei hatte so gut wie keine regierungserfahrenen Leute in ihren Reihen und sah sich anfangs mit einer ihr eher feindlich eingestellten Bürokratie konfrontiert.
In dieser Situation bot die Gülen-Bewegung ihre Hilfe an. Gemäß den Aufforderungen ihres Gurus hatten genügend Hizmet-Anhänger den langen Weg durch die Institutionen angetreten, um nun den Brüdern und Schwestern von der islamischen AKP unter die Arme greifen zu können. Zu dem Zeitpunkt war die AKP dankbar für die Unterstützung.
Macht über Medien und mutmaßliche Geschäfte mit der CIA
Vor allem in der Justiz und der Polizei waren die Gülen-Leute sehr erfolgreich. Aber auch darüber hinaus wuchs der Einfluss der Sekte enorm. Sie besaß mit Zaman eine der größten Zeitungen, kontrollierte TV-Kanäle, wurde zu einem Wirtschaftsgiganten mit eigenen Banken, Versicherungen und Immobilienunternehmen.
Vor allem betreibt die Gülen-Sekte private Schulen: Zuerst in der Türkei, nach der Auflösung der Sowjetunion expandierten sie in die zentralasiatischen turksprachigen Länder und hatten innerhalb kürzester Zeit dort ebenfalls einen großen Einfluss. Damals soll die Bewegung der CIA geholfen haben, in diesen Ex-Sowjetrepubliken Fuß zu fassen, weshalb Fethullah Gülen seit seiner Übersiedlung unter deren Schutz gestanden haben soll. Das würde erklären, weshalb er eine umstrittene Green Card bekam und vor allem warum die USA sich nach dem Putschversuch 2016 immer weigerten, Gülen an die Türkei auszuliefern.
In der Türkei erreichte die Bewegung in den Jahren nach der ersten Wiederwahl Erdoğans 2007 den Höhepunkt ihrer Macht. Vor der Wahl hatte die AKP knapp ein Verbotsverfahren überstanden, nach seinem zweiten Wahlsieg war Erdoğan festentschlossen, seine kemalistischen, säkularen Widersacher in Militär und Justiz aus dem Weg zu räumen.
Korruptionsanklagen gegen AKP-Funktionäre
Das Militär wurde in großem Stil gesäubert, anstelle säkularer Militärs rückten Gülen-Leute nach. Wer sich in diesen Jahren gegen die „Cemaat“ stellte, sah sich schnell mit der geballten Macht des Staates konfrontiert. Der linke Investigativjournalist Ahmet Sik, der „Die Armee des Imam“ verfasst hatte, wurde verhaftet, das Buch noch vor Erscheinen verboten. In Gülen-Medien wurden kritische Oppositionelle verunglimpft, alles sehr zum Gefallen der AKP.
Der Bruch zwischen Erdoğan und Gülen, der trotz vielfacher Einladung der AKP lieber in den USA geblieben war, kam, als es galt, die Beute zu teilen. Gülen forderte mehr, als der nunmehr fest im Sattel sitzende Erdoğan bereit war, ihm zu geben. Nach seinem großen Wahlsieg 2011 brauchte er Gülen nicht mehr. Jetzt zeigte sich, dass die Bewegung längst zu stark war, um sie einfach abzuservieren. Im Dezember 2013 veröffentlichten Gülen-nahe Staatsanwälte plötzlich schwere Korruptionsanklagen gegen hohe AKP-Funktionäre, die selbst Minister und die Familie Erdoğans betrafen.
Damit war das Tischtuch zerschnitten. Erdoğan ging zum Gegenangriff über. Einige Minister mussten zwar zurücktreten, doch Gülen-Verbindungen zu Justiz und Polizei wurden nach und nach zerschlagen. Erdoğan ließ Gülens Wirtschaftsunternehmen schließen, auch seine Medien mussten irgendwann dichtmachen. Der misslungene Putsch im Sommer 2016 war dann, darin sind sich die meisten Beobachter in der Türkei einig, der letzte Versuch der Gülen-Bewegung, die Macht im Staat zurückzugewinnen.
Weltweites Netzwerk bleibt bestehen
Gülens Anhänger bauten bis 2016 weltweit in mehr als 100 Ländern ein Netzwerk von Wohltätigkeitsstiftungen, Berufsverbänden, Unternehmen und Schulen auf, darunter 150 Schulen allein in den USA. In der Türkei wurden nach dem Putsch Hunderte Unternehmen, Schulen und Medienhäuser, die mit Gülen in Verbindung gestanden haben sollen, geschlossen, mehr als 130.000 mutmaßliche Anhänger aus dem öffentlichen Dienst und mehr als 23.000 Menschen aus dem Militär entlassen.
Der deutsche Ableger der Gülen-Bewegung, die „Stiftung Dialog und Bildung“, betreibt in Deutschland nach wie vor unter anderem Schulen, Nachhilfezentren und Kindergärten. Die Stiftung werde auch in Zukunft fortbestehen, teilte deren Vorsitzender Ercan Karakoyun mit.
Auch wenn die „Cemaat“ ihren Einfluss in der Türkei weitgehend verloren hat, dürfte der Tod von Fethullah Gülen für Erdoğan doch eine Erleichterung sein. Sein Außenminister Hakan Fidan, zuvor langjähriger Chef des türkischen Geheimdienstes MIT und damit oberster Gülen-Bekämpfer, forderte die Anhänger des toten Predigers am Montagvormittag auf, ihren Kampf „gegen den türkischen Staat“ nun endgültig einzustellen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin