Nachruf auf Ärzte-Bassist Hagen Liebing: Zu früh
Hagen Liebing hat als Bassist der „Ärzte“ Popgeschichte geschrieben, als Redakteur des Magazins „tip“ prägte er die Berliner Musikerszene. Am Sonntag ist er gestorben.
Am Sonntagnachmittag posteten seine Kollegen aus der tip-Redaktion auf Facebook einen seiner liebsten Songs: „It’s All Over Now Baby Blue“, geschrieben von Bob Dylan, in der Version von Them und Van Morisson aus dem Jahr 1966. Ein Lied zum Abschied von Hagen Liebing; einem Menschen, der für, mit und von der Musik gelebt hat.
Ein Lied, in dem alles drinsteckt, was man in diesen Momenten mit dem ehemaligen Mitglied der Band Die Ärzte und späteren Musikredakteur des tip Berlin verbindet: Rock-’n’-Roll-Spirit, Soul, Melancholie. Trauer und Trost. Aber auch die Hoffnung, das Lebensbejahende, den möglichen Neuanfang, den man in den berührenden Versen findet: Strike another match, go start a new. And it's all over now, Baby Blue.
Hagen Liebing war eine der treuesten Seelen der Berliner Musikszene. Bekannt wurde er in den Jahren 1986 bis 1988 als Bassist bei Die Ärzte. Eine vielzitierte Anekdote aus der Geschichte der selbst ernannten „besten Band der Welt“ führte damals zu seinem Engagement: Mitte der Achtziger hatten die beiden Ärzte-Masterminds Bela B. und Farin Urlaub den Bassisten Hans Runge alias Sahnie unehrenhaft entlassen und waren auf der Suche nach Ersatz.
Bela rief Hagen Liebing an, der bereits in verschiedenen Berliner Bands gespielt hatte, und fragte ihn: „Willst du Popstar werden?“ Liebing wollte. Und stieß genau in der Phase zu den Ärzten, in der sie eine der berühmtesten und die berüchtigtste Band der Bundesrepublik wurden.
Punk in Westberlin
Geboren wird Hagen Liebing 1961 in Berlin. Er wächst in Spandau auf und wird Ende der Siebziger in der Punkszene Westberlins (musikalisch) sozialisiert. Mit 18 spielt er in der Popgruppe Freundschaft (P.G.F.), die Szene trifft sich zu dieser Zeit im Ballhaus Spandau oder im Jugendclub Lipschitzallee. Von 1980 an spielt Liebing bei The Rubberbeats und lernt bei gemeinsamen Auftritten seine späteren Bandkollegen Bela und Farin kennen, die zu dieser Zeit als Soilent Green Punkrock fabrizieren.
Mitte der Achtziger hat Liebing mit The Nirvana Devils bereits seine nächste Combo, ehe er zu den inzwischen gegründeten Ärzten gelotst wird. Als ordentlicher Punk braucht man zu dieser Zeit natürlich auch ein ordentliches Alias. Seines war: The Incredible Hagen.
Die Ärzte werden in der Zeit, als der unglaubliche Hagen zu ihnen kommt, zur ersten Funpunk-Band, die bundesweit für Aufsehen sorgt. Ihr selbst betiteltes Album „Die Ärzte“ (1986) wird genauso wie „Debil“, eines der Vorgängerwerke, indiziert. Der Flirt mit dem Inzest in den Texten – in „Geschwisterliebe“ – ist für die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien too much.
Die Ärzte reagieren, indem sie das Album „Ab 18“ (1987) veröffentlichten, auf dem sich weitere Funpunk-Klassiker wie „Helmut K.“ („Helmut Kohl schlägt seine Frau“) und „Claudia hat ’nen Schäferhund“ finden. Bei diesen Aufnahmen spielt Hagen Liebing erstmals auch im Studio Bass. Bis zum Erfolgsalbum „Das ist nicht die ganze Wahrheit …“ – unter anderem mit dem Hit „Westerland“ – ist er Teil der Band, ehe diese sich 1988 auflöst.
Liebing setzt fortan sein Studium der Medienwissenschaften fort und wird zum Musikjournalisten. Dass Die Ärzte bei ihrer Reunion 1993 Rodrigo Gonzáles als Bassist einstellen und bei ihm nicht mal anfragen, sorgt für kurze Verärgerung – später aber steht Liebing auch wieder mit den Ärzten auf der Bühne: beim Jubiläumskonzert „15 Jahre netto“ 2002 auf dem Kreuzberger Mariannenplatz. Seine Erfahrungen schreibt er in „The Incredible Hagen – meine Jahre mit Die Ärzte“ 2003 auf.
Als Journalist beginnt er, Mitte der Neunziger unter anderem für den Tagesspiegel zu schreiben, ehe er maßgeblich das Musikressort des Stadtmagazins tip prägt, das er bis zuletzt geleitet hat. Dass der tip-Musikteil zeitweilig vielen als Leitmedium in Berlin gedient habe, sei seine eigentliche Lebensleistung gewesen, sagt Michael Beckmann, ehemaliger Rainbirds- und heutiger Plan B-Bassist, der Hagen Liebing seit den Achtzigern kannte. Als „immer smarten und zurückhaltenden, freundlichen Menschen“ beschreibt er ihn. Fragt man andere, die ihn kannten, so sagen sie Ähnliches über den Mann mit den buschigen Augenbrauen und den gescheitelten Haaren. Er war jemand, „der sehr viel Spirit hatte“, sagt Beckmann, „gepaart mit einem unglaublichen musikalischen Wissen. Eine Rock-’n’-Roll-Seele, die Klugheit ausstrahlte.“
Neben der Musik gibt es in Liebings Leben eine weitere Leidenschaft: Fußball, genauer: Tennis Borussia Berlin. Er ist Stammgast im Mommsenstadion und wird in den Nullerjahren Pressesprecher des Vereins. Im Klub engagiert er sich ehrenamtlich und sorgt so mit dafür, dass die Verbindung von Musik- und Fankultur im Verein heute so ist, wie sie ist.
Privat ist Liebing seit Anfang der Neunziger mit der Radio Eins-Moderatorin und -Musikchefin Anja Caspary liiert; sie haben zwei gemeinsame Kinder.
Es hatte sich zuletzt herumgesprochen, dass Liebing an einer unheilbaren Krankheit litt. Sein Tod wird eine Lücke in der Berliner Musik- und Kulturlandschaft hinterlassen – und nicht nur dort. Hagen Liebing starb am Sonntag in Berlin. Er wurde 55 Jahre alt.
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