Nachruf Soziologe Helmut Dubiel: „Niemand ist frei von Geschichte“

Der Soziologe Helmut Dubiel beschäftigte sich mit der Kritischen Theorie während des Nationalsozialismus. In Frankfurt ist er nun gestorben.

Helmut Dubiel

Soziologe Helmut Dubiel (1946-2015). Foto: Verlag Antje Kunstmann

Mit Helmut Dubiel verbindet der Autor eine kleine Szene, die ihm auch nach Jahrzehnten im Gedächtnis blieb: Im brechend vollen Hörsaal VI der Frankfurter Universität hielt der junge Wissenschaftler vor Jahren einen Vortag. Plötzlich stockte er, beugte sich leicht nach vorn und starrte wie versteinert auf sein Manuskript.

Neben ihm saß Jürgen Habermas auf dem Podium. Er schob dem jungen Kollegen ein Glas Wasser zu, aber der rührte sich nicht. Habermas umfasste nun seinen Nachbarn von der Seite an beiden Schultern und drückte dessen Oberkörper sanft in eine halbwegs aufrechte Position. In der ersten Reihe des Hörsaals saß der emeritierte Professor Iring Fetscher und reichte dem wieder aufrecht Sitzenden ein Bonbon. Der Vortragende machte weiter.

Die Art, wie sich Habermas und Fetscher um den jungen Kollegen kümmerten, hat etwas Anrührendes und blieb wohl deshalb in der Erinnerung haften. Jahre später bekam die Szene eine andere, tragische Bedeutung. 1992, mit 46 Jahren, erfuhr Dubiel, dass er an Parkinson litt.

Der 1946 geborene Helmut Dubiel studierte in Bochum und Bielefeld Philosophie und Soziologie und habilitierte sich nach der Promotion 1978 in Bielefeld. Von 1981 bis 1983 arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter von Jürgen Habermas am Max-Planck-Institut in Starnberg und von 1983 bis 1989 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Frankfurter Institut für Sozialforschung (IfS). Von 1989 bis 1997 war er Mitglied des Direktoriums des renommierten Instituts und hatte parallel einen Lehrstuhl an der Universität Gießen.

Authentische Quelle

Schon in seiner Habilitationsschrift beschäftigte sich Dubiel mit der Geschichte der Kritischen Theorie in der politisch schwierigen Konstellation zur Zeit des Endes der Weimarer Republik und des aufstrebenden Nationalsozialismus. Seine Studie zur Kritischen Theorie zeichnet sich u. a. dadurch aus, dass sie auch unbekannte Teile der Entstehungsgeschichte darstellte, interne Konflikte um die Ausrichtung des Instituts für Sozialforschung im Exil sowie beschädigte Karrieren von Institutsmitgliedern wie die des Literatursoziologen Leo Löwenthal (1900–1993). Das Gespräch mit Leo Löwenthal, „Mitmachen wollte ich nie. Ein autobiographisches Gespräch mit Helmut Dubiel“ (1980), gilt mittlerweile als authentische Quelle für die Geschichte der „Kritischen Theorie“.

In den 90er Jahren beschäftigte sich Dubiel mit der Verarbeitung und Verdrängung des Nationalsozialismus im Nachkriegsdeutschland. Dazu legte er zwei zeitgeschichtliche Studien vor, die weithin Beachtung fanden und beide 1999 veröffentlicht wurden: „Niemand ist frei von Geschichte. Die nationalsozialistische Herrschaft in den Debatten des Deutschen Bundestags“ und „Demokratie und Schuld“. Neben seiner Tätigkeit als Professor und Mitarbeiter am Institut verfasste Dubiel zahlreiche Essays und Aufsätze für Zeitungen und Zeitschriften zu politischen Themen.

Kritik am Institut

Innerhalb des Instituts für Sozialforschung, mittlerweile als stellvertretender Direktor, geriet Dubiel wegen seiner Kritik am Institut, von der die Mitarbeiter oft erst durch die Presse erfuhren, in Konflikt mit diesen und der theoretischen Ausrichtung der Institutsarbeit. Nach einem missglückten Versuch, sich die „herrenlos“ (Dubiel) gewordene Macht am Institut anzueignen, zog er enttäuscht und „gedemütigt“ – wie er schrieb – für drei Jahre nach New York an die New School.

In seinem beeindruckenden Buch „Tief im Hirn“ hat Dubiel im Jahr 2006 den Verlauf seiner Krankheit ohne Weinerlichkeit beschrieben: Auf Symptome reagierte er zunächst nur abwehrend und die Krankheit verleugnend, obwohl die Anzeichen bereits alarmierend waren. Das änderte sich dann nach einem Zusammenbruch, als er in der neurologischen Klinik mit dem eindeutig positiven Befund konfrontiert wurde. Die Krankheit war nicht mehr zu leugnen.

Unberechenbar

Dubiel verlegte sich nun darauf, sie gegenüber Kollegen und Mitarbeitern zu verschweigen. Diese nahmen jedoch die Veränderungen in Dubiels Verhalten wahr, denn er war nun im akademischen Alltag nicht mehr „berechenbar“ und „funktionierte“ nicht mehr, wie er nachträglich einräumte. Er war gefangen in „der Zwanghaftigkeit des Schweigens“ (Dubiel) und agierte als aggressiver Einzelkämpfer, der sich bald mit fast allen Mitarbeitern des Instituts überwarf.

Die letzten zwölf Jahre litt er auch an den Neben- und Spätfolgen einer Gehirnoperation und musste sich darauf beschränken, „die positiven Bestände meines Lebens zu sichern“. Am 3. November ist er in Frankfurt an den Folgen eines Unfalls gestorben.

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