Nachhaltiger Kunstrasen: Halme aus Plastik
Kunstrasen gilt als Mikroplastikschleuder. Neue Herstellungsmethoden sollen ihn nachhaltiger machen.
A ls Florian Wirtz das erste Tor der Fußball-Europameisterschaft schießt, gehen Bilder der Fanmeile am Brandenburger Tor um die Welt. Im Hintergrund immer zu sehen: der eigens für das Public Viewing verlegte Kunstrasen. 1,2 Millionen Euro hatte die Stadt Berlin dafür bezahlt, 24.000 Quadratmeter künstliches Grün liegen nun auf der Straße des 17. Juni. Das sind – und hier ergibt der Vergleich endlich mal Sinn – etwas mehr als drei Fußballfelder.
Prompt schlugen Umweltschützer*innen Alarm. Die Umwelt und die Gesundheit der Besucher*innen könnten unter der Fußballparty leiden. Denn die falsche Wiese gilt als Mikroplastikschleuder. Kunstrasenplätze bestehen aus Halmen, Granulat und einer elastischen Bodenplatte, jede dieser Komponenten ist unterschiedlich chemisch zusammengesetzt. Und wer nach einem Spiel auf Kunstrasen seine Schuhe ausleeren musste, weiß, dass die bis zu drei Millimeter kleinen Granulatkügelchen nicht auf dem Platz bleiben.
Das Problem liegt nicht nur auf der Fanmeile. Laut einer Fraunhofer-Studie gibt es mehr als 9.000 Kunstrasenplätze in Deutschland. Hunderttausende Kinder, Jugendliche und Erwachsene treiben auf ihnen Sport. Auf älteren Kunstrasen, von denen immer noch viele bespielt werden, liegen Granulate aus geschredderten Autoreifen. Mikroplastik und sogenannte Ewigkeitschemikalien, die sich kaum zersetzen, gelangen so in die Umwelt. Das Umweltbundesamt warnt davor, dass Mikroplastik im Körper schädliche Stoffe anziehen kann und so das Krebsrisiko steigt.
Schon seit dem Jahr 2019 ist abzusehen, was die EU 2023 beschlossen hat: Der Verkauf von Mikroplastik wird verboten. Nach einer Übergangszeit von acht Jahren ist Schluss mit dem giftigen Granulat.
Sand, Hanf und Kork statt Plastik
Seitdem verlegen die Hersteller häufiger Kunstrasen, die sie als „nachhaltig“ vermarkten, auch der auf der Berliner Fanmeile ist ein solches Modell. Auf derartigen Modellen liegt ein Granulat aus Sand, Kork und manchmal auch Olivenkernen. Und dann gibt es noch Prototypen völlig neuartiger Super-Kunstrasen, wie ihn etwa der Hersteller Polytan anbietet. Die Halme bestehen sogar aus bis zu 80 Prozent Zuckerrohr, das Granulat aus Kork, Hanf, Kreide und Latex.
In Vereinsheimen und Kreisräten wägen Kommunalpolitiker*innen und Ehrenamtliche inzwischen genau zwischen Natur- und Kunstrasen ab. Mit etwa 500.000 Euro brutto ist der Bau eines Kunstrasenplatzes doppelt so teuer wie die Naturvariante. Weil die Plastikhalme aber auch doppelt so lang halten, und Sportler*innen fast das ganze Jahr auf Kunstrasen spielen können – Naturrasen hat Winterpause –, sind die Kosten pro Spielstunde deutlich niedriger.
Naturrasen ist außerdem pflegeintensiv, er braucht Wasser und Dünger, muss gemäht und vertikutiert werden. Bei Kunstrasen ist die Wartung deutlich einfacher. Der Platzwart fährt hin und wieder mit einer Art Pflug über das Feld, um das Granulat – das sogenannte Infill – gleichmäßig zu verteilen und wo nötig aufzufüllen. Das Infill ist wichtig, damit der Boden beim Auftreten federt und genügend Grip hat.
Plastikhalme erhitzen sich extrem
Nach etwa zehn bis zwanzig Jahren ist der Kunstrasenteppich schließlich hinüber. Dann wandert er in die Müllverbrennung oder ins Recycling – und das ist recht aufwändig. Weil herkömmliche Recyclinganlagen oft die verschiedenen Kunststoffe nicht trennen können, hat Polytan sogar eine eigene Anlage für Kunstrasen in Essen gebaut. Naturrasen dagegen kann Stückchen für Stückchen in die Biotonne. Das ganze Thema bietet also reichlich Stoff für hitzige Debatten.
Wie in Heidelberg. Dort will die Verwaltung in der Südstadt einen Naturrasenplatz des Heidelberger Turnvereins, kurz HTV, durch Kunstrasen ersetzen. Franziska Metzbaur wohnt gleich nebenan. Sie hat beim HTV Volleyball gespielt und wehrt sich mit einer Petition gegen den Plastikplatz. Sorgen bereiten ihr vor allem das Mikroplastik, und dass der Kunstrasen ihr Viertel im Sommer zusätzlich aufheizen könnte.
„Die Plastikhalme speichern die Hitze“, sagt die Heidelbergerin am Telefon. „Sie können die Oberflächentemperatur um bis zu 38 Grad erhöhen.“ An 30 Grad heißen Tagen ist das Plastik also fast 70 Grad heiß. Und auch die Luft über dem Sportplatz wird so bis zu 4 Grad erwärmt. „Damit der Rasen trotzdem bespielt werden kann, muss er im Sommer mehrmals am Tag bewässert werden.“ Das habe sie auch schon bei anderen Kunstrasenanlagen in Heidelberg beobachtet.
Die Hersteller empfehlen eigentlich nicht, Kunstrasen zu bewässern. Viele Vereine in ganz Deutschland machen es aber trotzdem, weil in Hitzewellen sonst kein Spielbetrieb auf dem künstlichen Grün möglich ist. Und wenn die Sommer heißer werden, wird wahrscheinlich mehr Wasser auf die Plätze gegossen.
Mehr als 800 Menschen haben Franziska Metzbaurs Petition innerhalb eines Monats unterschrieben. Auch die Rugbyabteilung des HTV hat sich in einem offenen Brief gegen den Umbau ausgesprochen. Sie weist auf die schlechte Ökobilanz von Kunstrasen hin und sorgt sich um die Gesundheit der Spieler*innen. Wer auf Kunstrasen stürzt, zieht sich nämlich schneller als bei Naturrasen üble Schürfwunden zu, die aussehen wie Verbrennungen.
Umstrittene Ökobilanz
Auf Anfrage zählt die Stadt Heidelberg die üblichen, ökonomischen Argumente für Kunstrasen auf: Langfristig koste der Kunstrasen weniger. Auf Kunstrasen lässt es sich auch im Winter spielen, außerdem falle weniger Pflege an. Franziska Metzbaur schlägt jedoch genau das vor: den alten Rasenplatz besser zu pflegen und sich damit den Umbau zu sparen. „Zu behaupten, wir bauen jetzt einmal diesen Kunstrasen und dann haben wir keinen Aufwand mehr, ist einfach falsch.“ Der Umwelt, sagt Metzbaur, sei so ebenfalls geholfen.
Jetzt wird es kompliziert, denn Hersteller behaupten ja, moderne Kunstrasen seien nachhaltig. Auch die Stadt Heidelberg argumentiert in diese Richtung. Der Kunstrasen, den sie verlegen lassen will, sei dank moderner Technik sogar umweltfreundlicher als Naturrasen, teilt die Stadt mit. Was denn nun?
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Tatsächlich ist die Ökobilanz nicht so eindeutig, zumindest wenn man die Kunstrasenplätze mit dem eindeutig schädlichen Autoreifen-Infill außen vor lässt. Die Universität Zürich hat beide Beläge verglichen, das Ergebnis ist ein Unentschieden: Herstellung und Entsorgung von Kunstrasen emittieren viel CO2, Naturrasen verbrauchen dafür deutlich mehr Wasser bei der Pflege. Durch Kunstrasen belasten Mikroplastikpartikel die Umwelt, durch Naturrasen Pestizide und Dünger.
In Führung geht Kunstrasen, wenn die unterschiedliche Lebensdauer ins Spiel kommt. Nutzen Vereine den Kunstrasenplatz sehr oft, dann sind nicht nur die Kosten geringer, auch die Ökobilanz ist dann auf die Spielstunde gerechnet besser als beim Naturrasen.
Unklar, wie schädlich Mikroplastik ist
Insgesamt ist die Datenlage mäßig. Metzbaur bezieht sich für ihre Petition in Heidelberg auf eine Fraunhofer-Studie. Es ist die bisher umfassendste Arbeit zum Thema Kunstrasen. Forscher*innen und Hersteller kritisieren an der Untersuchung allerdings, dass sie sich hauptsächlich auf Daten aus dem Ausland bezieht und für sie keine eigenen Werte gemessen wurden. Eine erste Fassung von 2019 mussten die Fraunhofer-Wissenschaftler*innen zwei Jahre später korrigieren.
Weil unklar ist, wie schädlich Mikroplastik ist, bleibt etwa der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) dabei: Naturrasen ist immer besser als Kunstrasen. „Egal welche Maßnahmen die Hersteller treffen“, sagt BUND-Expertin Janine Korduan. „Man perfektioniert damit nur eine schlechte Lösung.“ Plastikpartikel gelangten weiter in die umliegende Natur. Entweder durch Abrieb von den Halmen, die wasserdurchlässige Bodenplatte oder wenn das Granulat über die Sportkleidung den Platz verlässt.
Wie viel Mikroplastik die neuesten, vorwiegend aus Naturstoffen bestehenden Kunstrasen produzieren, das könnte jetzt ein Pilotprojekt im niedersächsischen Sittensen zwischen Bremen und Hamburg klären. Dort, werben der VfL Sittensen und Hersteller Polytan, liegt der modernste und nachhaltigste Kunstrasen Europas.
Es ist einer der neuen Beläge mit Zuckerrohrhalmen und Granulat aus Hanf, Kreide und synthetischem Kautschuk – extra für den kleinen Amateurverein entwickelt. Fast das gleiche Grün wie hier in der Provinz liegt mittlerweile auch in den Trainingszentren von Bayer Leverkusen und Bayern München, mit einem Infill aus Sand und Kork.
Egbert Haneke, Vereinsvorsitzender des VfL Sittensen, streichelt fast liebevoll über die synthetische Grasnarbe. „Wir reden hier wirklich von einer High-End-Kunstrasenanlage“, sagt er. „So was haben 90 Prozent der Bundesbürger noch nicht gesehen, geschweige denn gefühlt. Es ist ein absoluter Traum, darauf zu laufen.“
Ein Labor unter dem Platz
Er klappt neben dem Platz einen Metalldeckel auf, in einem dunklen Keller stehen vier große Behälter. Sie fangen das Wasser auf, das aus dem Rasen und dann durch ein Filtersystem fließt. Erstmals können Wissenschaftler*innen hier nicht nur unter Laborbedingungen testen, wie viel Mikroplastik ein hochmoderner Kunstrasen emittiert – ein europaweit einmaliges Projekt. Die Abflusssysteme waren ursprünglich für Autobahnen gedacht, um den Reifenabrieb zu filtern.
„Die Hersteller sind sich der Problematik mit dem Mikroplastik bewusst“, sagt Studienleiterin Carmen Wolf vom Institut für Umwelt & Energie, Technik & Analytik (IUTA). Die Tests in Sittensen laufen zwar noch. Wolf hat aber auch zehn weitere Plastikplätze und die fünf umliegenden Meter auf Plastikreste getestet. Schon jetzt zeigt sich, dass Sittensens hochmoderner Rasen sehr gut abschneidet. Allein wegen des naturbelassenen Granulats falle weniger Mikroplastik an, vor allem im Vergleich zu Plätzen, die dafür geschredderte Autoreifen nutzen. Wenn das Abwasser aus der Anlage dazu noch gefiltert wird, sei nochmal deutlich weniger Mikroplastik nachzuweisen, sagt Wolf.
Der Vereinsvorsitzende Egbert Haneke verhandelte geschickt, um das Super-Grün nach Sittensen zu holen. 2019 überzeugte er den niedersächsischen Umweltminister Olaf Lies von der Idee einer Kunstrasenanlage mit integrierter Mikroplastikstudie. Mit der politischen Rückendeckung stellte er sich beim Hersteller Polytan vor.
Polytan wiederum konnte werbewirksam den „nachhaltigsten Rasen Europas“ verlegen und gleichzeitig auch unabhängig wissenschaftlich belegen lassen, dass hochmoderne Anlagen kaum noch Mikroplastik emittieren. Den Forscher*innen vom IUTA versprach Haneke, den Bau der Anlage ganz auf die Feldstudie auszulegen.
Rund zwei Millionen Euro hat die Anlage in Sittensen gekostet. Für normale Clubs ist das unbezahlbar. Daran sind Kritiker*innen zufolge die Hersteller wie Polytan nicht ganz unschuldig. Das Unternehmen aus dem bayerischen Burgheim ist immerhin schon mehr als fünfzig Jahre im Geschäft. Spätestens seit dem Pariser Klimaabkommen war abzusehen, dass nachhaltiger Kunstrasen auch im Breitensport wichtig wird. Vorzeigeprojekte wie in Sittensen sollen vielleicht auch davon ablenken, dass Polytan und andere Hersteller sich zu spät um das Thema gekümmert haben, und dass die neuen Lösungen jetzt noch entsprechend teuer sind.
Im Dschungel der Fördergelder
Auf den meisten Sportplätzen in Deutschland geht es aber vor allem um die Kosten, wie beim SV Langenberg im ostthüringischen Gera. Dort hat Benjamin Sänger, Abteilungsleiter Fußball, viele Hürden genommen und nun endlich den alten Hartplatz durch Kunstrasen ersetzt, wie er sagt. Einen Kunststoffrasen mit Sand-Granulat.
Sänger blickt mit einem lachenden und weinenden Auge zurück auf das liebevoll „Schlackeplatz“ genannte Feld. Es war der letzte Hartplatz in der hiesigen Kreisliga, genoss Kultstatus. Neun Jahre lang trainierte Sänger die Männerfußballmannschaft, während er gleichzeitig selbst als Spieler auf dem Platz stand. Seit Mitte März ist der Schlackeplatz Geschichte.
Dafür musste sich Amateurfußballer Sänger durch die unübersichtliche Fördermittellandschaft kämpfen. In Thüringen wird ein Platzneubau gefördert, wenn ein „sportfachlicher Bedarf“ vorliegt. Das kann eine nachhaltige Modernisierung umfassen, muss es aber nicht. Für Kunstrasen mit Gummigranulaten gibt es – wie in ganz Deutschland – keine Förderung mehr.
Der Landessportbund Thüringen stellt jährlich zwei Millionen Euro Fördergelder bereit, nach Langenberg flossen am Ende 410.000 Euro. Auch lokale Unternehmen beteiligten sich mit Spenden. Ohne Förderung übersteigt ein Kunstrasenneukauf die Budgets der meisten Vereine und Kommunen, das hat die Fraunhofer-Studie ergeben, und das weiß auch der Hersteller Polytan.
Der SV Langenberg weihte den neuen Kunstrasenplatz bei einem Heimspiel gegen den SV Ronneburg ein. Letztmals zu DDR-Zeiten sahen so viele Menschen ein Spiel der Langenberger, damals ging es noch gegen die Erstligamannschaft aus Karl-Marx-Stadt. Dass der Gegner das erste Spiel auf dem neuen Kunstrasen gewann? Zweitranging. „Der Anpfiff im Sonnenuntergang, das Kribbeln in der Luft, fast 1.000 Zuschauer – das war ein besonderer Abend“, sagt Sänger. „Solche Momente erlebt man als Kreisligaspieler eigentlich nicht.“
Seit dem Umbau wächst der SV Langenberg. In der kommenden Saison schickt er erstmals eine zweite Herrenmannschaft ins Rennen. Im Jugendbereich gebe es fast wöchentliche Neuanmeldungen, erzählt Sänger. Unter sozialen Gesichtspunkten ist der neue Kunstrasenplatz für den Verein und die Region also jetzt schon ein Gewinn, auch wenn die Plastikhalme munter ihr Mikroplastik in der Langenberger Natur verteilen und irgendwann in den Müll wandern werden.
Der Kunstrasen auf der Berliner Fanmeile soll ein zweites Leben bekommen. Wenn die Partymeile Mitte Juli abgebaut wird, soll der Plastikrasen nicht verbrannt oder recycelt werden, haben die Organisatoren angekündigt. Teile des Rasens gehen dann an Berliner Schulen, Kitas und eine Justizvollzugsanstalt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen