Nach der Wahl in Ungarn: Zwischen Jubel und Verzweiflung
Fast 800.000 Menschen haben Ungarn verlassen, seit Viktor Orbán an die Macht kam. Vor allem Junge werden von Zukunftsängsten geplagt.
Während Fidesz-Fans die ganze Nacht vor dem futuristischen Gebäude des Bálna-Einkaufszentrums nahe der Freiheitsbrücke mit Fahnenschwenken und viel Alkohol feierten, herrschte bei der Opposition Katerstimmung. Die enttäuschten Anhänger der Opposition links der Mitte sammelten sich am Oktogon nördlich des Stadtzentrums und weit weg von der ausgelassenen Fidesz-Jubelfeier. Auch die Kindergärtnerin Paulina sieht der neuen Regierung mit unguten Gefühlen entgegen. Sie arbeite in einem privaten Kindergarten und hoffe, dass der Staat ihre Arbeit nicht stärker als bisher versuchen werde zu beeinflussen. „Aber genau davor fürchten sich meine Kollegen in öffentlichen Einrichtungen.“
Die Wahlen vom Sonntag brachten bei einer relativ hohen Wahlbeteiligung von über 67 Prozent einen deutlicheren Sieg für die Regierungsparteien Fidesz-KDNP als allgemein erwartet. Die Opposition hatte gehofft, eine absolute Mehrheit für Viktor Orbán verhindern zu können. 48,5 Prozent reichen aber für viel mehr. Voraussichtlich werden die Parlamentsfraktionen von Fidesz und der christdemokratischen KDNP mit zusammen 133 Sitzen über eine Zweidrittelmehrheit verfügen. Das vor sechs Jahren reformierte Wahlrecht macht es möglich.
Die rechtsextreme Jobbik mit 19,5 Prozent der Stimmen kommt auf 26 Mandate, die sozialdemokratische MSZP auf 20. Die linksliberale Demokratische Koalition – eine Abspaltung von der MSZP unter dem linksliberalen Ex-Premier Ferenc Gyurcsány wird 9 Abgeordnete ins Parlament schicken, die grün-konservative LMP 8. Der Rest der insgesamt 199 Mandate verteilt sich auf Splittergruppen und die Minderheiten der Deutschen und Roma.
Grund zum Feiern hat Lőrinc Mészáros, ein Jugendfreund von Viktor Orbán, der in wenigen Jahren vom Gasinstallateur zum Oligarchen und Großgrundbesitzer aufgestiegen ist. Die mehrheitlich von ihm gehaltenen Aktien der in Budapest notierten Holdinggesellschaft Konzum erlebten am Montag einen Höhenflug von plus 15 Prozent. Champagnerlaune bei Orbáns Günstlingen und Katzenjammer im Lager der Opposition. Jobbik-Chef Gábor Vona und der MSZP-Vorsitzende Gyula Molnár traten noch in der Nacht von ihren Posten zurück.
Jobbik hat zwar das Wahlziel, stärkste Oppositionskraft zu werden, erreicht, verlor aber 0,7 Prozentpunkte und fiel auf 19,5 Prozent. Vonas Versuch, die martialisch-faschistisch auftretende Partei in eine konservative Zentrumskraft zu verwandeln, ist nicht aufgegangen. Anhänger, die den moderaten Kurs nicht goutieren, fühlten sich von Orbáns nationalistischer und xenophober Rhetorik besser bedient. Die Zustimmung der Sozialdemokraten wurde von 25,6 auf 12,4 Prozent sogar halbiert.
Animositäten spalten die Opposition
Bulcsú Hunyadi
Der Politikwissenschaftler Zoltán Balázs, der am Oktogon seinem Frust Luft machte, warf den Oppositionsparteien vor, sie hätten nicht eng genug zusammengearbeitet. Der Eigensinn der grünen LMP und der Protestpartei Momentum, die ihre Kandidaten nicht zurückziehen wollten, hätte den Parlamentseinzug von fünf bis sechs Oppositionskandidaten verhindert.
In den Einerwahlkreisen, wo eine einfache Mehrheit genügt, um das Mandat abzuräumen, wäre mehr möglich gewesen, wenn sich die Opposition darauf geeinigt hätte, den jeweils aussichtsreichsten Kandidaten zu unterstützen. Aber die Animositäten zwischen den ideologisch teils weit auseinanderliegenden Kräften haben diese geschlossene Front gegen Fidesz nicht zugelassen. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Hass eine erfolgreiche Taktik sein kann“, kommentierte das ein Intellektueller.
Vor allem die jungen Menschen werden von Zukunftsängsten geplagt. Sie glauben, dass Orbán seinen Feldzug gegen progressive und liberale Nichtregierungsorganisationen fortsetzen wird. Sie ersetzen zum Teil die politische Opposition, weil sie Skandale aufdecken und Menschenrechtsverletzungen anprangern. Organisationen, die Geld aus dem Ausland bekommen, müssen eine Strafsteuer bezahlen, wenn das Gesetz beschlossen ist, das derzeit im Parlament liegt. Auch die Central European University, die vom ungarischstämmigen Milliardär George Soros gegründet wurde, soll vergrault werden. Dort werden Studierende aus ganz Europa im Geiste liberaler Werte ausgebildet. Ein unterschriftsreifer Vertrag, der ihren Fortbestand sichern soll, wird von der Regierung seit Wochen ignoriert.
Die Dichterin Eva wäre schon längst weg, wenn sie nicht gerade ein Haus baute: „Aber sobald es fertig ist, gehe ich nach London.“ Zwischen 700.000 und 800.000 Ungarn haben das Land verlassen, seit Orbán regiert. 2010 kam er an die Macht. Ungarn habe daher kein Einwanderungsproblem, sondern ein Auswanderungsproblem, sagte Bulcsú Hunyadi vom Thinktank Political Capital in Budapest im Ö1 Radio. Es seien zwar nicht alle aus politischen Gründen ausgewandert, doch viele fühlen sich, so wie die Poetin Eva, in dem in ihrem Land herrschenden Klima nicht mehr wohl.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“