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Nach dem Anschlag in NizzaEin Ort, der allen gehörte

Mit jedem Anschlag wächst die Gleichgültigkeit, die Akzeptanz der Ausnahme. Der Ausnahmezustand verändert schleichend das Leben.

Vom Attentat beschmutzt: die Strandpromenade von Nizza Foto: dpa

Nizza taz | Endlich sollte wieder alles normal werden. Endlich sollten wir wieder unbeschwert Feste in den Städten feiern können, sollten die hässlichen Balustraden vor allen Rathäusern und Kindergärten abgebaut werden. Endlich sollten wir wieder das Gefühl haben, in einem gewöhnlichen Frankreich zu leben, wir wollten die Französische Revolution feiern wie jedes Jahr, mit Feuerwerk und Musik und viel Rosé.

Aber nun ist ein Attentäter über die Meerespromenade in Nizza gerast, er hat mindestens 84 Menschen in den Tod gerissen und die Hoffnung auf ein angenehm alltägliches Leben in Frankreich gleich mit begraben.

Nun herrscht wieder die Angst wie nach den Anschlägen von Paris im vergangenen November, wieder überschlagen sich die Anrufe von Freunden und Familien, ob man sich nicht möglicherweise am falschen Ort in Frankreich aufgehalten habe. Wieder gucken uns die Kinder fragend an und wieder versucht Präsident François Hollande, mit einem Ausnahmezustand, mit Balustraden und Elternverboten in Schulen und Kindergärten eine Sicherheit vorzugaukeln, die es nicht geben kann, wenn ein Lkw ausreicht, um einen terroristischen Anschlag zu verüben.

Das Ziel des Attentäters ist für das südfranzösische Nizza so wie das Brandenburger Tor für Berlin oder der Eiffelturm für Paris: Die Promenade zieht sich über sieben Kilometer am Meer entlang und ist das Wahrzeichen Nizzas. Nicht ein Bewohner Südfrankreichs, der nicht schon auf der Promenade geschlendert wäre. Nicht ein Tourist in Nizza, der nicht vom roten Asphalt aus auf das Meer geschaut hätte, nicht eine Familie, die nicht schon mit ihren Kindern unter einer der Dattelpalmen ein Eis gegessen hätte.

Nizzas Promenade ist ein Ort, an dem sich alle Menschen und Nationalitäten mischen

Mit dem Attentat ist ein Ort beschmutzt worden, der allen gehörte – den Reichen der Côte d'Azur, die in den Restaurants am Strand ihre Austern verspeisen, den Jugendlichen, die abends am Strand Gitarre spielen und Rotwein aus Tetrapaks trinken, und den Touristen, die sich auf den Kieselsteinen bräunen. Es ist ein Ort, an dem sich alle Menschen und Nationalitäten mischen – viel bunter und gemischter, als es die exklusiven Strände vom benachbarten Cannes oder St. Tropez sind.

Ausgerechnet hier fährt der Täter seine Todestour. Ausgerechnet hier und ausgerechnet am 14. Juli. An kaum einem anderen Tag ist die Promenade in Nizza so von Menschen beseelt wie am Nationalfeiertag. Das Feuerwerk erhellt minutenlang die Promenade am Meer, zehntausende Touristen an der Côte d'Azur schauen zu. Der Höhepunkt des Jahres wird nun für immer von diesem Attentat überschattet sein.

Ende des friedlichen Sommers

Auch der Ausnahmezustand wird nun erneut um drei Monate verlängert, und mithin all die Vorschriften, die seit dem Attentat vom November vergangenen Jahres in Paris eingeführt wurden. „Es bringt ja doch alles nichts“, sagen Freunde nun, denn wer hält Menschen auf, die offenbar nur noch großen Hass auf die französische Gesellschaft empfinden? Niemand kann sie aufhalten, sagen viele Franzosen und die Bäckersfrau weigert sich, „un mot“, überhaupt nur „ein Wort“ über das Attentat zu verlieren, weil sie „ihr Frankreich“ zurückhaben will und durch Totschweigen vielleicht wieder daran glauben kann.

Dabei schien es ein friedlicher Sommer zu werden. Nach der gelungenen Europameisterschaft, in der sich nur ein paar besoffene Fans prügelten und ansonsten alles gut lief, hatte Präsident Hollande gestern angekündigt, den Ausnahmezustand zu beenden. Eine Freundin rief nach dieser Nachricht extra an, so groß war die Freude darüber, den „état d'urgence“ loszuwerden. Denn der Ausnahmezustand hat unser Leben in Frankreich nicht drastisch, aber doch schleichend verändert. Weil überall die roten Warndreiecke prangten und wir unsere Kinder nicht mehr am Klassenraum im Kindergarten abgeben konnten, sondern am Eingangstor „au revoir“ sagen mussten.

Weil beim Karneval in Nizza, nach Rio und Venedig dem größten der Welt, schwer bewaffnete Männer die Clowns bewachten, weil Feste abgesagt wurden und Rucksäcke in Einkaufszentren gefilzt wurden. Und weil der Elternbeirat der Grundschule plötzlich nicht mehr für biologisches Essen in der Kantine stritt, sondern stundenlang über höhere Zäune um den Schulhof debattierte.

Unser Alltag ist gespickt mit sinnlosen Versuchen, den Terrorismus einzudämmen, aber das Gefühl bleibt, dass keine Spezialkräfte der Welt uns schützen können, solange wir alle mit unseren Tankfüllungen aus dem Nahen Osten die Konflikte anheizen und solange Frankreich seine zugewanderten Familien in trostlose Vorstädte verbannt.

Auftrieb für den Front National

Aber die Fragen nach den tieferen Ursachen möchten nur wenige stellen. Schon bei den vergangenen Wahlen hat in einigen Stadtteilen mehr als jede zweite Person für den rechtsextremen Front National gestimmt, in aktuellen Umfragen kommt Marine Le Pen auf noch mehr Anhänger. Die Wut wächst und zugleich, und das ist das Erstaunliche, die Gleichgültigkeit, ja, die Akzeptanz der Ausnahme. Denn etwas hat sich doch verändert seit den Attentaten in Paris vor nunmehr acht Monaten: Damals sagten die Schulleiter noch etwas kopflos, wir sollten zum Schuleingang rennen, so überfordert waren sie mit den neuen Bestimmungen.

Damals noch waren Nachbarn und Freunde davon überrumpelt, dass Frankreich ein Ziel von Attentaten sein kann. Diesmal tritt etwas ein, mit dem fast schon alle gerechnet haben, so häufig wie über die Gefahr in den Nachrichten berichtet wird. „Das überrascht mich nicht“, heißt es nun, auch wenn es diesmal direkt in der Nachbarschaft geschieht und nicht in der 900 Kilometer entfernten Hauptstadt. Wir haben uns daran gewöhnt, im Ausnahmezustand zu sein – das normale, sorglose Leben ist für viele Franzosen, und nun erst recht für die Südfranzosen, wieder in weite Ferne gerückt.

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12 Kommentare

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  • Kann ja eigentlich nix schaden, wenn sich zukünftig mehr Menschen mal mit dem Umstand auseinandersetzen, dass der Tod noch nie ein guter Werbeträger für die Existenz von Leben war.

     

    Und man dann, wenn man nicht an Hokuspokus glauben will, man mal überlegt, wie man damit klar kommen will.

  • 1G
    12671 (Profil gelöscht)

    Wo bleibt die Botschaft der Liebe und der Selbstkritik? Jede Verschlimmerung der Gewaltspirale durch den Staat sät weitere Anschläge.

     

    Westliches Militär raus aus islamischen Ländern und alles wird gut.

    • @12671 (Profil gelöscht):

      Genau! das, und Arbeit, gute Schulen, Zukunftsperspektiven für Jungendliche und Familien in "Problemvierteln".

       

      Leider können (oder wollen?) unsere Politiker und Medien nur an erhöhte Sicherheitsmaßnahmen denken.

  • Nein, es ergibt keinen Sinn, einen Ausnahmezustand zu verhängen oder zu verlängern, wenn die Ausnahme erst einmal zur Regel geworden ist. Entsprechende Versuche dienen lediglich der Volksverdummung. Sie gaukeln eine Handlungsfähigkeit vor, die die französische Politik längst nicht mehr hat aufgrund diverser Fehlentscheidungen, die sie aber weiterhin behaupten muss, weil sie keine Alternativen erkennt zu sich selbst und dem, was sie gerade tut.

     

    Hollande will an der Macht bleiben, auch wenn er sie nicht sinnvoll nutzen kann. Der Mann ist NICHT gewählt worden, weil sich die Franzosen Auslandseinsätze ihrer Armee, ein hartes Vorgehen gegen protestierende Gewerkschafter oder die Kungelei mit dem Großkapital gewünscht haben. Hollande hatte den "Normalbürgern" soziale und wirtschaftliche Fortschritte versprochen. Er wollte die Gräben, die Nicolas-Kärcher-Sarkozy aufgerissen hatte, wieder zuschütten. Nichts davon hat er getan. Nun lenken die Anschläge von seinem Totalversagen ab.

     

    Jene Irren, die in Nizza, Paris und anderswo Amok laufen, haben ihre eigene "Hoffnung auf ein angenehm alltägliches Leben in Frankreich" längst schon begraben. Was sie noch angetrieben hat, war das Bedürfnis, ihre eigene Hoffnungslosigkeit auf die zu übertragen, die sie im besten Falle ignorieren, so wie die Bäckersfrau. Sie wollen sich nicht totschweigen lassen. Lieber sterben sie und nehmen andere mit. Eine verquere Logik, das, aber doch eine Logik.

     

    Wenn ein Lkw ausreicht, um einen terroristischen Anschlag zu verüben, hilft es nicht, Präsens zu zeigen als Staatsmacht. Es gibt zu viele LKW, zu viele Straßen und zu viele Geschäfte, die auf LKW-Lieferungen angewiesen sind. Nichts wird wieder "normal" werden in Frankreich, so lange nicht jeder Franzose gute Gründe hat, die Französische Revolution zu feiern. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit waren nie nur Selbstzweck oder Deko. Hollande ignoriert das, und es nützt ihm noch. Sch... Politik!

  • Da findet doch nur die allmähliche und übergreifende Globalisierung von "Kollateralschäden" statt, denen man in der westlichen Welt schon immer vorwiegend mit Gleichgültigkeit zugeschaut hat. Man könnte auch sagen, der gewaltsame Tod beschränkt sich nicht länger auf bestimmte Gebiete. Insofern muss man letztlich wohl auch von einer "Normalisierung" sprechen.

    • @Rainer B.:

      Richtig. Der "Ausnahmezustand" ist der Normalzustand weltweit und ist es schon immer gewesen. Er taucht lediglich medial nah auf. Erschrecken muss das niemanden. Terrorismus als Todesursache tauch in der Sterbesstatistik nicht einmal als Ursache auf. Auf dieses unbedeutende Marketing-Thema der Terroristen, Rechtspopulisten und sonstiger Volksbeschützer wird viel zu viel Energie und Geld verschwendet.

    • @Rainer B.:

      Sie haben ja wohl ein trauriges Bild von Normalität, wenn Sie die Ausweitung von Gewalt und Leid als "Normalisierung" bezeichnen, oder Sie sind ein Zyniker der schlimmsten Sorte.

       

      Bedenken Sie, dass die bisherige territoriale Beschränkung des Terrors, welche wie jetzt dann und wann ins Wanken kommt, auch mit einer Beschränkung der Opfer-Anzahl einherging, gegenüber der Vorstellung einer ganzen Welt im Terrorchaos!

       

      Natürlich ist die letztere Vorstellung übertrieben, ich will damit auch keine Panik machen, sondern nur darauf aufmerksam machen, was die Beschränkung "auf bestimmte Gebiete" im Vergleich zum Szenario einer Nicht-Beschränkung bedeutet.

      • @Ein alter Kauz:

        Fragt sich nur, wer hier der Zyniker ist.

  • Es ist wahr: Die Strandpromenade von Nizza ist der Ort für alle. Obwohl wir nur eine Nacht in Nizza verbracht haben, haben wir es uns nicht nehmen lassen, dort den Strassenmusikanten und Gauklern zuzuhören und zuzusehen. Später haben wir uns über die Touristengefängnisse hinter Mauern mokiert, aber hier war ein Ort für alle.

    Vielleicht wäre jetzt die Zeit ein Zeichen für Europa zu setzen gegen Terroristen, Rechtspopulisten und Europafeinde mit Solidaritätskundgebungen in allen Städten Europas

    • @Gerhard Roth:

      Es wird auch in Zukunft ein Ort für alle sein.

  • Alles sehr traurig. Das Nachrichtenportal cnn adressiert auf seiner Website Augenzeugen (Are you in Nice? Did you see what happened ...), doch ihre Video- oder Fotoaufnahmen per "WhatsApp" an cnn zu senden. Die bereits angekommen Aufnahmen werden mit pathetischer Musik unterlegt und sind auf dem Portal anzuklicken. Das ist alles wirklich ganz ganz ekelhaft. Kaum auszuhalten, wie diese Tragödie medial ausgeschlachtet wird. Mir tuts für die Kinder und Jugendlichen leid, die sich in dieser Welt zurecht finden müssen. Dagegen war der kalte Krieg ein Spaziergang auf einer Strandpromenade der 80er-Jahre.

    • @OSCILLATEWILDLY:

      Es gibt viele Arten von Krieg, aber leider nur eine einzige Reaktion darauf: die falsche.

       

      Keine Frage: Ein asymmetrischer Krieg ist etwas völlig anderes, als der Kalte Krieg der 1980-er. Und beide unterscheiden sich erheblich von Bürger- oder Aggressionskriegen. Leider differenzieren die Verantwortlichen nicht. Sie versuchen, sämtliche Formen der Gewalt mit den immer gleichen untauglichen Mitteln zu bekämpfen. Nach eventuellen Ursachen oder Zusammenhängen fragen sie nie. Aus gutem Grund.