piwik no script img

Nach Zurückeroberung von RakkaWohin ist der IS verschwunden?

Hunderte IS-Kämpfer durften mit Wissen des US-Militärs aus Rakka abziehen, um Blutvergießen zu verhindern. Die Türkei kritisiert die Vereinbarung.

Kämpfer der SDF in einem zerstörten Stadium in Rakka Foto: ap

Kairo taz/dpa/afp | Wohin sind eigentlich die Kämpfer des „Islamischen Staates“ verschwunden? Das ist eine der Fragen, die sich mit dem Ende der territorialen Existenz des IS im Irak und in Syrien stellen. Eine Recherche der britischen BBC wirft jetzt etwas Licht auf diese Frage. Der Sender deckte auf, dass es bei der Befreiung der einstigen syrischen IS-Hochburg Rakka ein Abkommen gab, das wahrscheinlich viele Leben gerettet hat, es aber auch Hunderten von IS-Kämpfern ermöglichte, aus der Stadt zu fliehen.

Nach der Rückeroberung Rakkas durch die kurdisch dominierten SDF-Milizen und mithilfe von US-Special Forces am 12. Oktober gab es unbestätigte Berichte, dass es kurz zuvor ein Abkommen gegeben habe, in dessen Rahmen die IS-Kämpfer mit einem Teil ihrer Waffen aus der Stadt evakuiert worden seien. In den sozialen Medien kursierten Videos von einem Konvoi von Lastwagen und Bussen, in denen die IS-Kämpfer angeblich aus der Stadt transportiert wurden – unter den Augen der SDF, die kurz darauf die Befreiung der Stadt verkündeten.

Nun wurde der Deal das erste Mal durch eine BBC-Recherche bestätigt. Demnach war in Rakka am 12. Oktober ein Konvoi aus fast 50 Lkws, 13 Bussen und Hunderten von privaten IS-Fahrzeugen zusammengestellt worden, in dem mindestens 250 IS-Kämpfer und 3.500 Familienangehörige die Stadt verlassen konnten. Vorausgegangen war der zwischen dem IS und lokalen Verhandlungsführern ausgehandelte Deal. Bei den Verhandlungen soll auch „ein westlicher Vertreter“ anwesend gewesen sein, der aber „nicht aktiv“ eingegriffen habe.

Die BBC sprach mit den damals vor Ort angeheuerten Fahrern der Lkws sowie Augenzeugen, die die Evakuierung beobachtet, und Vertretern, die den Deal ausgehandelt hatten, ohne deren richtige Namen zu nennen. Der Konvoi soll bis zu sieben Kilometer lang gewesen sein und kurz nach Rakka in Richtung Euphrat nahe der irakischen Grenze abgebogen sein.

Das US-Militär wusste Bescheid

Motiv des Abkommens war es, Leben zu retten, sowohl das der verbliebenen Zivilisten in der Stadt als auch das der kurdisch dominierten SDF-Kämpfer, die damals die Stadt Haus für Haus vom IS zurückeroberten. Befürchtet wurde, dass die eingeschlossenen IS-Kämpfer bis zum letzten Blutstropfen kämpfen würden und die Zahl der Opfer hoch sein würde.

Das Ganze fand mit dem Wissen der US-Militärs statt. Hauptmann Ryan Dillon, ein Sprecher, der an der Rückeroberung von Rakka beteiligt war, gab gegenüber der BBC zu, dass ungefähr 250 IS-Kämpfer aus der Stadt evakuiert worden waren. Das sei am Ende eine Entscheidung der syrischen Partner gewesen. „Sie waren diejenigen, die gekämpft haben und die gestorben sind, und sie waren jene, die die Entscheidung getroffen haben“, erklärte der US-Militärsprecher.

Noch im Mai hatte der Plan in den Worten von US-Verteidigungsminister Jim Mattis ganz anders geklungen. Er sprach damals von einer taktischen Verschiebung der US-Militäroperation, „weg davon, den IS aus seinem Territorium zu vertreiben, hin zu einer Belagerung seiner Hochburgen, sodass wir den IS auslöschen können. Damit wollen wir verhindern, dass ausländische Kämpfer nach Hause fliehen können.“

Schmuggelweg, den viele IS-Kämpfer nutzten

Tatsächlich sollen ursprünglich ausländische IS-Kämpfer vom Rakka-Deal ausgeschlossen gewesen sein. Aber die Fahrer der Lkws bestätigen, dass ausländische Kämpfer aus Frankreich, der Türkei, Aserbaidschan, Pakistan, Jemen, Saudi-Arabien, China, Tunesien und Ägypten mit evakuiert wurden.

Die BBC-Recherche deckt auch auf, dass es ein ausgefeiltes Netzwerk an Schmugglern gab, die bereits vor der Evakuierung vor allem ausländische IS-Kämpfer aus der Stadt gebracht hatten, für 600 Dollar pro Person oder 1.500 Dollar für eine Familie in Richtung türkische Grenze. Ein Schmuggelweg, den viele europäische IS-Kämpfer samt Familien nutzten, führte in die nordsyrische Provinz Idlib.

Der Deal hat wahrscheinlich ein größeres Blutbad in Rakka verhindert. Aber er hat es auch Hunderten kampferprobten IS-Kämpfern ermöglicht unterzutauchen. Manche von ihnen mögen seitdem getötet worden sein. Andere wurden verhaftet. Viele mögen desillusioniert sein. Doch einige der ausländischen Kämpfer könnten sich nun neuen Aufgaben zuwenden: zum Beispiel der Mission, Terroranschläge in Europa auszuüben.

Kritik von Türkei und Emiraten

Die Türkei hat ein angebliches Abkommen der syrischen Kurden mit der Dschihadistenmiliz IS zum Abzug von IS-Kämpfern aus Rakka verurteilt. Die „Enthüllungen“ über die Vereinbarung der SDF mit der IS-Miliz zum Abzug einer „großen Zahl von Terroristen“ seien „extrem schwerwiegend und aufschlussreich“, erklärte das türkische Außenministerium am Dienstagabend. Es bekräftigte seine Vorbehalte gegen die von den USA unterstützten SDF.

Das Abkommen zeige, dass die Türkei mit ihren Warnungen an die USA vor einer Kooperation mit dem kurdisch-arabischen SDF-Bündnis recht gehabt habe. „Dieses Abkommen ist ein neues Beispiel dafür, dass eine Terrororganisation mit Hilfe einer anderen zu bekämpfen nur zu Absprachen zwischen diesen beiden Organisationen führt“, erklärte das Ministerium in Ankara.

Die Türkei kritisiert seit langem, dass die US-Streitkräfte die SDF-Truppen im Kampf gegen die Dschihadisten mit Waffen, Spezialkräften und Luftangriffen unterstützen. Ankara betrachtet die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG), die das Rückgrat der SDF-Allianz bilden, wegen ihrer engen Verbindungen zur verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) als Terrororganisation.

Auch die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) warnen vor den Folgen der Flucht zahlreicher Terroristen aus der einstigen IS-Hochburg Al-Rakka. Kämpfer der Terrormiliz Islamischer Staat seien aus der syrischen Stadt „weitergezogen nach Libyen, nach Somalia, in afrikanische Staaten südlich der Sahara und auf die Philippinen, einige sind auch nach Europa zurückgekehrt“, sagte der Chef des Anti-Terror-Programms der Emirate, Ali al-Nuaimi.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

11 Kommentare

 / 
  • Die IS-Kämpfer können nach Libyen, Somalia, Mali oder in den Tschad gehen. Sie haben auch im Irak in den sunnitischen Gebieten eine Überlebenschance, solange sie dort nicht als IS auftreten. Oder vielleicht sitzen einige von denen längst wieder in Brüssel, St. Denise oder Köln und beziehen H4 und beten, was das Zeug hält. Ich hätte mir gewünscht, dass man jeden einzelnen von denen fängt und vor Gericht bringt.

  • Zitat: „Wohin sind eigentlich die Kämpfer des 'Islamischen Staates' verschwunden?“

     

    Derartige Fragen stellen sich immer nach dem „Ende der territorialen Existenz“ politischer Herrschaften. Eine ähnliche Frage hätte man den US-Amerikanern auch 1945 schon stellen können. Damals allerdings hätte man nach deutschen Nazis fragen müssen. Die nämlich hatten sich nach dem Ende ihres Dritten Reiches auch quasi in Luft aufgelöst.

     

    Abgetaucht in der Anonymität einer Masse gleich oder doch wenigstens recht ähnlich Gesinnter mit ebenfalls nicht persilreinem Gewissen, haben sie in erstaunlicher Bescheidenheit abgewartet, bis Gras gewachsen war über ihr Wirken in der „guten alten Zeit“ – sofern sie nicht gleich da hin ausgewandert sind, wo ihre „guten alten Zeiten“ noch ungute Gegenwart gewesen sind. Nach Chile oder so. Da hin, wo bald darauf die Chikago Boys um Milton Friedmann unsre aktuelle Weltordnung geschmiedet haben.

     

    Ohne das wohlwollende Einverständnis der Sieger von damals wäre das unmöglich gewesen, scheint mir. Erfolgreichere Sieger haben offenbar immer schon fein unterschieden zwischen nützlichen und unnützen Idioten. Die unnützen wurden publikumswirksam hingerichtet oder weggesperrt. Die nützlichen wurden aufgehoben und wieder verwendet. Als Kämpfer im eiskalten Krieg gegen die ehemaligen Kampfgefährten vom östlichen Ende Europas, for exampele.

     

    1945 hat die Großzügigkeit der US-Amerikaner nicht wenigen Täter den A*sch gerettet. Die Russen waren weniger zimperlich. 44 Jahre später haben sie die Quittung erhalten für ihre konsequente Haltung. Pragmatismus, scheint's, schlägt Ideologie.

     

    Und was ist mit Moral? Moral ist, wenn man leben lässt. Was schert also Jim Mattis sein Geschwätz von gestern? Wer echte Macht ausüben will, der braucht eine, nun sagen wir: fluide Moral. Eine, die zur jeweiligen Entscheidung passt. Von Katholiken lernen heißt noch immer siegen lernen. Und darauf die Absolution! (Oder auch einen Absinth.)

  • 6G
    61321 (Profil gelöscht)

    Einen besiegten Kampfverband oder sogar eine ganze Armee abziehen zu lassen, hat es in der Geschichte unzählige Male gegeben. Humanitäre Gründe spielen dabei vielleicht erst in der Neuzeit eine häufigere Rolle.

    Was im Fall von Raqqa die Angehörigen von Opfern von Daesh dazu sagen, steht auf einem völlig anderen Blatt.

    Aber Abzug ohne Entwaffnung zu gewähren, ist ein äußerst fragwürdiger Vorgang, um es einmal ganz schwach auszudrücken.

  • 4G
    41069 (Profil gelöscht)

    Nach Berichten beteiligter LKW/Busfahrer sollen unter dem Schutz der SDF bzw. USA über 500 Daesh Verbrecher mit unzähligen Waffen plus 3500 bis 4000 Angehörigen aus Raqqa abgezogen sein. Der Terror und Mord kann somit an anderer Stelle weitergehen.

    Es scheint SDF und USA haben wenig Interesse Daesh kampfunfähig zumachen. Sie sind potentielle Verbündete gegen Assad.

  • Eine großartige humanitäre Geste. Auch wenn diese jungen Männer auf dem Irrweg sind und sich selbst und anderen Menschen viel Schaden zugefügt haben, so haben sie es deswegen noch lange nicht verdient, wehrlose Opfer von Assads Giftgas-Fassbomben und Putins Schlächtern zu werden.

    • @Khaled Chaabouté:

      Sie haben vergessen "Regime" unterzubringen :)

      • @jhwh:

        Danke für den Hinweis. Bei "Regime" wollte ich schlichtweg der Inflation vorbeugen, denn der Begriff wird ja in unverbrauchter Frische wieder gebracht, wenn es demnächst darum geht, die katalanischen Separatisten, also das Regime des nationalistischen Diktators Puigdemont entsprechend zu würdigen und natürlich für Maduro wenn demnächst fir Friedenstruppen der westlichen Wertegemeinschaft in das Land mit den größten Ölvorkommen der Welt einmarschieren.

  • "Motiv des Abkommens [mit den IS-Kämpfern] war es, Leben zu retten, sowohl das der verbliebenen Zivilisten in der Stadt als auch das der kurdisch dominierten SDF-Kämpfer, die damals die Stadt Haus für Haus vom IS zurückeroberten."

     

    Das ist nachvollziehbar. Die syrische Regierung hat aus den gleichen Gründen ähnliche Deals mit dschihadistischen Söldnern im ganzen Land gemacht. Als diese mit ihren Familien aus Aleppo abzogen, wurde in westlichen Medien natürlich von "ethnischen Säuberungen" gesprochen.

     

    "Ein Schmuggelweg, den viele europäische IS-Kämpfer samt Familien nutzten, führte in die nordsyrische Provinz Idlib."

     

    Und genau dort liegt das Problem mit diesen Deals. Durch die Evakuierungen sowohl der Syrer als auch der SDF haben sich in Idlib mittlerweile ca. 40.000 islamistische Söldner aus aller Herren Länder versammelt. Sie kontrollieren faktisch die Provinz und verfügen über schweres Kriegsgerät und wahrscheinlich auch Chemiewaffen. Eine Frage der Zeit, bis die syrische Regierung dort gemeinsam mit Russland eine Großoffensive beginnt. Die USA werden wohl kooperieren und die Türkei wird mit Mann und Maus versuchen, ihre Grenze geschlossen zu halten, weil viele Heimatländer die Söldner nicht wieder zurücknehmen wollen.

     

    Hier noch der BBC-Bericht in Schriftform: http://www.bbc.co.uk/news/resources/idt-sh/raqqas_dirty_secret

  • Auch in Deutschland wurden nach 1945 diverse Naziverbrecher auf freien Fuß gesetzt. Sie haben dann in der Bundesrepublik Verwaltung und Justiz aufgebaut. Das erklärt u.a. auch die folgenschwere Akzeptanz der heutigen national befreiten Zonen. Wenn heute in Gesamtdeutschland bereits jeder achte die Nachfolgeorganisationen der Nationalsozialisten , also NPD und AFD , wählt, zeigt eindrucksvoll was passiert, wenn man mörderische Verbrecherbanden nicht zur Rechenschaft zieht!

    • @amigo:

      @AMIGO Sie vergreifen sich deutlich im Ton!

      Eine legale Partei als Nachfolgeorganisation der Nationalsozialisten zu bezeichnen ist genauso unverschämt und unangebracht wie andere mit den Stalinisten vergleichen zu wollen.

       

      Was mir Sorgen macht, sind nicht nur undemokratischen Menschen wie Sie, sondern vermutlich nicht wenige IS-Kämpfer, die bei uns ein neues Zuhause finden, weil irgendwelche Naivlinge das ermöglichen und jede Kritik daran nierderbrüllen und niedertrampeln, wie es zu dunkelsten Zeiten vorgelebt wurde.

  • 8G
    81622 (Profil gelöscht)

    Wenn die Türkei das Abkommen nun so heftig kritisert, erinnert an den Dieb, der schreit : "haltet den Dieb!".