Nach Tod von 39 Vietnames*innen: Lange Haft für Schleuser
In Brügge sind Mitglieder eines Menschenschmuggel-Rings zu Gefängnisstrafen verurteilt worden. Belgiens Hauptstadt Brüssel gilt als Schleuserzentrum.
In der Begründung sprach die Geschworenenjury von einer „selten gesehenen Ernsthaftigkeit der Tatsachen“ sowie der „Missachtung der Menschenwürde und körperlichen Unversehrtheit der Opfer“. Monatelang soll das Netzwerk täglich Dutzende Menschen transportiert haben. Pro Person hätten diese knapp 25.000 Euro bezahlt, berichten belgische Medien.
Unter den Verurteilten befanden sich unter anderem Besitzer sogenannter Safe Houses in Brüssel und mehrere Taxifahrer aus der belgischen Hauptstadt. Einer von ihnen, der laut Gericht mehr als 50 Fahrten für das Netzwerk ausführte und die anderen Fahrer rekrutierte, wurde zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Ein weiteres wichtiges Mitglied des Netzwerks, das nach dem Tod der 39 Vietnames*innen weiterhin Menschen nach Großbritannien schmuggelte, erhielt eine Freiheitsstrafe von zehn Jahren. Fünf Angeklagte, darunter vier Taxifahrer, wurden freigesprochen.
Der als „Essex-Drama“ bekannte Fall sorgte im Oktober 2019 weltweit für Aufsehen. Zum einen, weil er ein Licht auf das Ausmaß unmenschlicher Umstände warf, welche die im besagten Kühlcontainer erstickten Personen das Leben kosteten. Dass ihr Todeskampf mittels Textnachrichten an Angehörige letztendlich offenbar wurde, unterstrich diesen Effekt noch.
Hinzu kommt, dass durch den Fall etliche Details über Transporte von Vietnames*innen bekannt wurden, die in der Regel getrennt von anderen Menschenschmuggel-Operationen über den Ärmelkanal verlaufen und weitgehend auf eigenen, geschlossenen Netzwerken basieren.
Prekäre Arbeit in Brüsseler Nagelstudios
Auch die taz recherchierte in der Folge zu diesen Praktiken und stieß auf Routen, die über Russland entlang unterschiedlicher Routen nach Westeuropa verlaufen, wobei Berlin und Brüssel Knotenpunkte bilden.
Staatsanwältin Ann Lukowiak, die auf belgischer Seite die Ermittlungen leitete, sagte damals, dass die Betroffenen je nach Route 25.000 bis 40.000 Euro bezahlten, die sie unterwegs in extrem ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen verdienen müssen. Insbesondere in Brüssel spiegelt sich dies in der starken Zunahme billiger Nagelstudios wider, in denen junge Vietnames*innen vielfach ohne Schutz schädlichen Chemikalien ausgesetzt sind.
Die 39 Opfer des „Essex- Dramas“, 8 Frauen und 31 Männer im Alter zwischen 15 und 44 Jahren, wurden in der Nacht zum 23. Oktober 2019 tot auf einem Industriegelände nahe dem Themse-Hafens Purfleet gefunden. Am Nachmittag zuvor war ihr Container im belgischen Zeebrugge verschifft worden. Anders als in anderen Häfen werden Container dort nicht mit Lkws transportiert, sondern von diesen nur an den Kai gebracht und auf der anderen Seite von einem anderen Lkw abgeholt.
Urteile in Großbritannien und Vietnam
Der Fahrer, der den betreffenden Container in Purfleet abholte, wurde, wie drei andere Beteiligte auf britischer Seite, bereits vor einem Jahr in London verurteilt. Die Strafen lagen zwischen 13 und 27 Jahren. Weitere sieben Beteiligte wurden im September in Vietnam verurteilt. Weil das Schiff in Belgien ablegte, leitete die dortige Staatsanwaltschaft unmittelbar danach ihre eigenen Ermittlungen ein.
Luc Arnou, der als Anwalt die Opfer vertrat, zeigte sich mit dem Urteil des Gerichts in Brügge zufrieden: „Es ist ein deutliches Signal, dass es nicht funktioniert, Menschen auszubeuten, die auf der Suche nach einem besseren Leben sind, und sie unter unmenschlichen Umständen, die bis zum Tod führen, zu transportieren.“ Es sei nun klar, dass solche Taten hart bestraft würden.
Fraglich ist unterdessen, inwiefern ein solches Urteil strukturell Auswirkungen auf Schleusernetzwerke hat. Die belgische, auf Brüssel spezialisierte Website bruzz.be berichtet dieser Tage, das betroffene Netzwerk habe bereits seit 2018 operiert. Die belgische Hauptstadt sei darin „ein zentraler Punkt“, wird Stef Janssens zitiert, Experte beim staatlichen belgischen Migrationszentrum Myria.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Wahlprogramm der FDP
Alles lässt sich ändern – außer der Schuldenbremse
Tod des Fahrradaktivisten Natenom
Öffentliche Verhandlung vor Gericht entfällt
Grüne über das Gezerre um Paragraf 218
„Absolut unüblich und respektlos“
Migration auf dem Ärmelkanal
Effizienz mit Todesfolge