Nach Rücktritt der Regierung: Libanons vollkommene Krise
Ein neues Kabinett bringt im Libanon keine Lösung, der desolate Zustand des Landes wurzelt tiefer. Viele Menschen wollen einen echten Wandel.
L ibanons Regierung ist zurückgetreten, doch das ändert vorerst nichts. Nicht nur bleibt das Kabinett unter Hassan Diab solange geschäftsführend im Amt, bis eine neue Regierung gebildet ist, was Monate dauern kann. Auch führt der erneute Rücktritt einer Regierung im Libanon den Menschen unmissverständlich vor Augen: Ein neuer Premier mit neuem Kabinett wird nichts dessen richten, was im Land grundsätzlich schiefläuft.
Damit vervollständigt Diabs Schritt das Desaster, das mit der Wirtschaftskrise und der Katastrophe in Beirut einen Höhepunkt erreicht hat. Die Explosion war ein gewaltiger Schlag ins Gesicht jener, die einfach ihr Leben leben wollen, im Libanon eine Zukunft planen, eine Familie gründen, eine Karriere verfolgen wollen – und zwar in einem Staat, der seine wichtigste Aufgabe erfüllt: Leib und Leben der BürgerInnen schützen. Die Explosion hat das Staatsversagen von seiner hässlichsten Seite offenbart: Es trat auf als Glassplitter im Unterschenkel, es verwandelte Wohnungen in Trümmer, es tötete Freunde und Familie.
Nun zwingt sich die Frage geradezu auf: Was kann eine neue Regierung ändern? Wie am Montag bekannt wurde, wusste die Regierung Diabs zwar von dem gefährlichen Ammoniumnitrat im Hafen. Damit trifft sie eine Mitschuld, mitnichten aber ist sie allein verantwortlich für die Katastrophe. Diab trat im vergangenen Januar an, nachdem Massenproteste die Regierung seines Vorgängers Saad Hariri zu Fall gebracht hatten. Diabs Regierung sollte unabhängig sein, nicht korrupt, ein Technokraten-Kabinett. Nun ist wieder die Rede von einer „neutralen Regierung“, einer „Regierung der nationalen Einheit“, doch mit jedem neuen Kabinett klingen diese Worte hohler.
In seiner Fernsehansprache am Montagabend sprach Diab von einem Volk, auf dessen Seite er auch sich und seine Regierung verstanden wissen wollte. Dem gegenüber stellte er eine einflussreiche „Klasse“; er sprach von „ihnen“, von „einigen“ und von einem „Korruptionsnetzwerk“, das größer sei als der Staat. Seine Worte waren auffallend nebulös, doch seine Analyse ist zutreffend, auch wenn Diab von Gnaden eben dieser Klasse regierte und damit selbst Teil des Systems war.
Mafiöse Strukturen
Im Libanon wissen alle: Diese „Klasse“ besteht aus mafiös agierenden Politiker(familien) und ihren Günstlingen, aus Ex-Außenminister Gebran Bassil, der den Elektrizitätssektor des Landes kontrolliert, aus seinem Schwiegervater, dem Präsidenten und Ex-Warlord Michel Aoun, dem Bassil im Amt nachfolgen will. Aus der Hariri-Familie von Ex-Premier und Unternehmer Saad Hariri, Sohn Rafik Hariris, der seinerseits Regierungschef war und gleichzeitig nach dem Bürgerkrieg gewinnbringend Beirut wieder aufbauen durfte. Aus Hassan Nasrallah, der sich selbst zwar von staatlichen Posten fernhält, aber mit der Hisbollah eine einflussreiche Partei sowie eine eigene Armee unterhält, mit der er das Land in Geiselhaft hält.
Wie in so vielen Ländern der Region wollen viele im Libanon einen „wahren Wandel“, von dem auch Diab am Montag sprach. Im Libanon heißt das: Nicht einen Militärherrscher stürzen, sondern an eben diese tief verwurzelten Strukturen zu gehen, die das Land lähmen. Die Wirtschafts-, Regierungs- und Coronakrise im Land mitsamt einer wütenden Protestbewegung auf den Straßen kann den Libanon destabilisieren. Sie birgt aber auch die Chance, grundsätzlich etwas zu verändern. Dass dies möglich ist, haben die Umwälzungen in den Ländern der Region im vergangenen Jahrzehnt zur Genüge bewiesen.
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