Nach Kritik an einem Flüchtlingsheim: Landkreis bedroht Flüchtlingsrat
Der Verein hatte das Strafsystem einer Unterkunft in Wismar kritisiert. Die Vorwürfe bestätigt der Landkreis – und prüft dennoch rechtliche Schritte.

Der Flüchtlingsrat hatte sich ursprünglich Anfang Juli an die Öffentlichkeit gewandt. Der Vorwurf: In der Flüchtlingsunterkunft Haffburg in Wismar herrsche ein Bestrafungssystem. Wer sich nicht an Regeln der Hausordnung halte, werde ohne Weiteres in einen anderen Gebäudeteil versetzt; statt Einzelzimmern gebe es dann Mehrbettzimmer ohne abschließbare Schränke, ohne abschließbare Zimmertüren und mit nur eingeschränkten Möglichkeiten zu kochen. Dieses Sanktionssystem sei menschenverachtend.
Der NDR berichtete als Erster über die Vorwürfe und sprach dabei auch mit einer sanktionierten Bewohnerin; die erklärte dort, dass sie seit sieben Tagen in dem gesonderten Bereich untergebracht sei. „Die erste Übernachtung, ich kann nicht meine Kleidung mitbringen“, erzählt sie, mit dem Rücken zur Kamera, dem NDR. Ihr Vergehen: Sie hatte sich nicht an den Putzplan gehalten, weil sie am betreffenden Tag vormittags zum Integrationskurs und nachmittags zu ihrer Arbeit musste.
Flüchtlingsrat und Landkreis gingen im Anschluss an die Veröffentlichung ins Gespräch; einen Teilerfolg als Ergebnis der Gespräche vermeldete der Flüchtlingsrat am 11. Juli: die „bisherigen Sanktionen bei Verstößen gegen Hygieneregeln in der Gemeinschaftsunterkunft“ würden, zumindest vorläufig, ausgesetzt. Auch der Landkreis spricht im Nachhinein von konstruktiven Gesprächen.
Landrat will „rechtliche Schritte“ prüfen
Überraschend kommt daher die neue Wendung, die die Geschichte bei einer Kreistagssitzung am 24. Juli erfuhr: Die Grünen hatten dort eine Anfrage zu den Zuständen in der Haffburg gestellt, der Landrat Tino Schomann (CDU) antwortete persönlich.
„Wir weisen aufs Schärfste zurück, was dort als menschenverachtendes Sanktionssystem angeprangert wurde“, sagte Schomann. „Ich habe auch angekündigt, dass wir rechtliche Schritte gegen die Äußerungen prüfen, weil es nicht der Wahrheit entspricht, was hier geäußert wurde.“
Was genau „nicht der Wahrheit entspricht“ bleibt allerdings unklar. Schon im NDR-Bericht wird von der Behörde praktisch alles bestätigt, was der Unterkunft konkret vorgeworfen wurde. „Richtig ist: In dem Fall hat sich eine Frau nicht an die, in der Hausordnung vorgeschriebenen, Reinigungspläne gehalten (…). In der Konsequenz wurde sie einem gesonderten Wohnbereich zugeteilt, der in einem anderen Teil des Hauses liegt“, zitiert der Sender den Landkreis.
Das entspricht dem, was der Flüchtlingsrat kritisiert hatte. Ein Sprecher des Landkreises bleibt auf Nachfrage dabei: „Es gab sachliche Falschaussagen. So wurde und wird nach wie vor von einem Sanktionssystem [gesprochen, Ergänzung der Redaktion]. Es gibt entsprechende Ordnungsmaßnahmen zur Durchsetzung der Hausordnung und Hygiene, aber kein Sanktionssystem“.
Eine Unterscheidung, die nicht standhält: „Das kommt auf das Gleiche hinaus“, befindet Sarah Lincoln, Rechtsanwältin und Legal Director bei der Gesellschaft für Freiheitsrechte. Sie hat sich schon mehrfach in Klagen mit grundrechtswidrigen Hausordnungen von Geflüchtetenheimen auseinandergesetzt.
Sarah Lincoln, Anwältin der Gesellschaft für Freiheitsrechte
Der Landkreis greife hier in den eigenen Wohnbereich und die Privatsphäre der Betroffenen ein. „Egal, ob man es Sanktion nennt, Konsequenz oder Ordnungsmaßnahme, rechtlich muss es sich an den gleichen Maßstäben messen lassen“, sagt Lincoln. Die rechtliche Grundlage für Sanktionen sei hier nicht ausreichend.
Es gibt zwar eine „Erstbelehrung“, die – in deutscher Sprache – allen Bewohner*innen ausgehändigt wird. „Reinigung der Gemeinschaftsräume, Konsequenzen bei Nichteinhaltung (7 Tage Übernachtungsbereich und Reinigung, bevor wieder zum zugewiesenen Bettenplatz)“, heißt es dort als Notiz hinter einem Spiegelstrich.
Aber, so Lincoln: „Die Erstbelehrung ist keine rechtliche Grundlage für eine Sanktionierung. Sie ist völlig formlos, man erfährt nicht einmal, wer das schreibt und woraus sich das ergeben soll.“
Eine Hausordnung gibt es zwar auch – doch die handelt nur ganz allgemein von Pflichten. „Die Regelung ist zu unbestimmt für so einen gravierenden Eingriff“, so Sarah Lincoln. „Sanktionen müssen immer im Verhältnis zum Verstoß gesehen werden. Keinesfalls kann ein Verstoß gegen die Putzordnung einen Verweis aus dem eigenen Wohnbereich rechtfertigen.“
Landkreis stört sich an einer Meinung
Der Landkreis hat allerdings noch mehr auszusetzen an der Kritik am Flüchtlingsheims. „Schon gar nicht ist der Bereich,menschenverachtend’, sondern mit allem zum Leben notwendigen ausgestattet“, sagt der Sprecher des Kreises.
Das allerdings ist kein unumstößliches Sachurteil, sondern am Ende eine Bewertungsfrage – und damit von der Meinungsfreiheit gedeckt.
Schockiert ist der Flüchtlingsrat denn vor allem über die Ankündigung rechtlicher Schritte. „Es scheint ein neuer Trend bei bestimmten politischen Akteuren zu sein, zivilgesellschaftliche Akteure einzuschüchtern“, sagt Sabine Ziesemer, Sprecherin des Flüchtlingsrats.
Die möglichen konkreten Folgen dagegen machen ihr keine Angst. „Wir sind da zutiefst gelassen“, sagt Ziesemer. „Sollte der Landkreis wirklich rechtliche Schritte einleiten, lernt man dort vielleicht etwas über Meinungsfreiheit. Wir haben hier nur eine Wertung vorgenommen.“
Akteur für den Rechtsstaat
Die Grünenfraktion im Landtag Mecklenburg-Vorpommerns springt dem Flüchtlingsrat bei. „Nicht die Äußerungen seitens des Flüchtlingsrats bedürfen einer rechtlichen Überprüfung, sondern die Unterbringungssituation in der Haffburg“, findet die Fraktionsvorsitzende Constanze Oehlrich. Nur indem er Missstände dokumentiere und mögliche Menschenrechtsverletzungen öffentlich mache, könne er seine Aufgabe für den Rechtsstaat erfüllen.
Der Landkreis wiederum zeigt sich irritiert über die Aufregung. Schließlich habe man mit dem Flüchtlingsrat doch vertrauensvolle und konstruktive Gespräche zum Thema geführt. Dass nach der Landkreissitzung, bei der Landrat Schomann die Prüfung von rechtlichen Schritten gegen den Flüchtlingsrat angekündigt hat, nun Einschüchterungsvorwürfe kommen, versteht die Verwaltung nicht und teilt mit: „Das erneute öffentlichkeitswirksame Vorpreschen des Flüchtlingsrates ist aus Sicht des Landkreises befremdlich.“
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