Nach Corona-Ausbruch in Schlachthof: Kritik an Boykott von Tönnies
Verbraucherschützer haben sich gegen einen Boykott von Fleisch des Tönnies-Konzerns ausgesprochen. Die gesamte Branche müsse sich ändern.
Anton Hofreiter, Co-Vorsitzender der Grünen-Bundestagsfraktion, hatte sich am Wochenende für einen Boykott von Tönnies-Produkten ausgesprochen, nachdem im Stammwerk des Unternehmens im westfälischen Rheda-Wiedenbrück mehr als 1.300 Mitarbeiter positiv auf das Coronavirus getestet wurden. Die großen Supermarktketten „sollten Tönnies-Produkte aus ihrem Angebot nehmen“, sagte Hofreiter der Bild am Sonntag. Am Montag wollte er auf taz-Anfrage nicht mehr explizit Tönnies-Ware boykottiert wissen, sondern nur noch allgemein „Produkte, die unter solchen Bedingungen entstanden sind“.
„Da wird von schwerwiegendem politischen Versagen abgelenkt, sei es bei Gesetzen zur Leiharbeit, zum Tierschutz oder den Kontrollen“, erläuterte Verbraucherschützer Wolfschmidt. Es sei absurd, dass die kommunalen Behörden überwachen müssten, ob sich milliardenschwere Schlachtkonzerne an Gesundheits- und Tierschutzvorschriften halten. „Der Landrat hat ein Interesse an Gewerbesteuern von den Unternehmen. Die Schließung wegen Verstößen gegen den Infektionsschutz führt zu einem klassischen Interessenkonflikt.“
Das Bundeskabinett hat bereits im Mai ein Verbot von Werkverträgen beim Schlachten und Zerlegen zum 1. Januar 2021 angekündigt. Bisher werden Gewerkschaftern zufolge in großen Schlachthöfen bis zu 80 Prozent der Mitarbeiter von Subunternehmern beschäftigt, die über Werkverträge beauftragt werden. So entledigen sich die Fleischkonzerne der Verantwortung für Bezahlung unter dem Mindestlohn, mangelnden Arbeitsschutz oder Unterbringung in zu kleinen Wohnungen. Die meisten Beschäftigten kommen etwa aus Rumänien.
Schweine können 14 Tage länger auf Höfen bleiben
Heil verlangte zu prüfen, ob Tönnies die Kosten etwa für die gesundheitliche Behandlung der Menschen übernehmen muss. Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach warnte vor einem freien Reiseverkehr der Menschen aus der Region um den Tönnies-Schlachthof. „Ich bin sicher, dass deutlich mehr Menschen außerhalb der Mitarbeiterschaft inzwischen infiziert sind“, sagte Lauterbach der Rheinischen Post.
Bis vergangenen Mittwoch schlachtete Tönnies in Rheda täglich rund 20.000 Tiere. „Die gemästeten Schweine werden jetzt erst mal bei den Landwirten bleiben“, sagte der taz Bernhard Schlindwein, Vize-Hauptgeschäftsführer des Westfälisch-Lippischen Landwirtschaftsverbands. „14 Tage sind bei vielen Betrieben kein großes Problem“, so Matthias Quaing, Marktreferent der Interessengemeinschaft der Schweinehalter Deutschlands. Die Bauern versuchten, die Tiere nun anderweitig zu verkaufen. Schlindwein rechnet aber damit, dass die derzeit vergleichsweise hohen Preise sinken. Die Tiere zu töten, ohne ihr Fleisch zu verarbeiten, ist Quaing zufolge kein „vernünftiger Grund“ gemäß Tierschutzgesetz und deshalb verboten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich