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Nach Corona-Ausbruch in SchlachthofKritik an Boykott von Tönnies

Verbraucherschützer haben sich gegen einen Boykott von Fleisch des Tönnies-Konzerns ausgesprochen. Die gesamte Branche müsse sich ändern.

Viele haben sich angesteckt: Arbeiter des Tönnies-Schlachthofs in Rheda-Wiedenbrück Foto: Martin Meissner/ap

Berlin taz | Verbraucherschützer, Gewerkschafter und SPD-Politiker lehnen einen Boykott des Fleischkonzerns Tönnies wegen des Corona-Ausbruchs in dem Unternehmen ab. „Bei Westfleisch oder Müller-Fleisch haben sich ebenfalls Hunderte Arbeiter angesteckt“, sagte Matthias Wolfschmidt, ­Strategiedirektor der Konsumentenorganisation Food­watch, am Montag der taz. „Auch bei den anderen Konzernen wird mit Werkverträgen gearbeitet und ist Ausbeutung von Mensch und Tier leider eher die Regel als die Ausnahme“, ergänzte Thomas Bernhard, Referatsleiter Fleischindustrie bei der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG). Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) erklärte im ARD-„Morgenmagazin“: „Es ist insgesamt in dieser Branche etwas umzukrempeln und aufzuräumen.“

Anton Hofreiter, Co-Vorsitzender der Grünen-Bundestags­fraktion, hatte sich am Wochenende für einen Boykott von Tönnies-Produkten ausgesprochen, nachdem im Stammwerk des Unternehmens im westfälischen Rheda-Wiedenbrück mehr als 1.300 Mitarbeiter positiv auf das Coronavirus getestet wurden. Die großen Supermarktketten „sollten Tönnies-Produk­te aus ihrem Angebot nehmen“, sagte Hofreiter der Bild am Sonntag. Am Montag wollte er auf taz-Anfrage nicht mehr explizit Tönnies-Ware boykottiert wissen, sondern nur noch allgemein „Produkte, die unter solchen Bedingungen entstanden sind“.

„Da wird von schwerwiegendem politischen Versagen abgelenkt, sei es bei Gesetzen zur Leiharbeit, zum Tierschutz oder den Kontrollen“, erläuterte Verbraucherschützer Wolfschmidt. Es sei absurd, dass die kommunalen Behörden überwachen müssten, ob sich milliardenschwere Schlachtkonzerne an Gesundheits- und Tierschutzvorschriften halten. „Der Landrat hat ein Interesse an Gewerbesteuern von den Unternehmen. Die Schließung wegen Verstößen gegen den Infektionsschutz führt zu einem klassischen Interessenkonflikt.“

Das Bundeskabinett hat bereits im Mai ein Verbot von Werkverträgen beim Schlachten und Zerlegen zum 1. Januar 2021 angekündigt. Bisher werden Gewerkschaftern zufolge in großen Schlachthöfen bis zu 80 Prozent der Mitarbeiter von Subunternehmern beschäftigt, die über Werkverträge beauftragt werden. So entledigen sich die Fleischkonzerne der Verantwortung für Bezahlung unter dem Mindestlohn, mangelnden Arbeitsschutz oder Unterbringung in zu kleinen Wohnungen. Die meisten Beschäftigten kommen etwa aus Rumänien.

Schweine können 14 Tage länger auf Höfen bleiben

Heil verlangte zu prüfen, ob Tönnies die Kosten etwa für die gesundheitliche Behandlung der Menschen übernehmen muss. Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach warnte vor einem freien Reiseverkehr der Menschen aus der Region um den Tönnies-Schlachthof. „Ich bin sicher, dass deutlich mehr Menschen außerhalb der Mitarbeiterschaft inzwischen infiziert sind“, sagte Lauterbach der Rheinischen Post.

Bis vergangenen Mittwoch schlachtete Tönnies in Rheda täglich rund 20.000 Tiere. „Die gemästeten Schweine werden jetzt erst mal bei den Landwirten bleiben“, sagte der taz Bernhard Schlindwein, Vize-Hauptgeschäftsführer des Westfälisch-Lippischen Landwirtschaftsverbands. „14 Tage sind bei vielen Betrieben kein großes Problem“, so Matthias Quaing, Marktreferent der Interessengemeinschaft der Schweinehalter Deutschlands. Die Bauern versuchten, die Tiere nun anderweitig zu verkaufen. Schlindwein rechnet aber damit, dass die derzeit vergleichsweise hohen Preise sinken. Die Tiere zu töten, ohne ihr Fleisch zu verarbeiten, ist Quaing zufolge kein „vernünftiger Grund“ gemäß Tierschutzgesetz und deshalb verboten.

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31 Kommentare

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  • 0G
    02612 (Profil gelöscht)

    Wenn es ernst gemeint ist - dann sollte die Politik einmal mit Herrn Andres Ruff von dem Bundesverband der Enährungsindustrie ( BVE ) mit Sitz in Brüssel und Berlin Kontakt aufnehmen. Herr Andres ist Vorstandsmitglied der BVE und parallel bestens in der Fleischindustrie durch seinen Job als Geschäftsführer bei der Tönnies Holding ApS & Co. KG mit der Materie vertraut .

  • 0G
    02612 (Profil gelöscht)

    Wer nicht spätestens jetztin der Politik aktiv wird und im Sinne der Wähler und Verbraucher für Arbeitsrechte, Verbraucherrechte, Tierwohl anfängt kompetent Gesetze umzusetzen hat die Schmierenkomödie verloren.



    Ein Industrieunternehmen macht auf Kosten der Landwirte und Arbeitnehmer Milliardengewinne Landwirte, die ihnen die Ware liefern und bekommen statt einen angemessenen Preis - ein Taschengeld. Wenn die Landwirte fair bezahlt werden, brauchen sie weniger Schlachttiere zu produzieren um auf ihren lebensnotwendigen Jahresumsatz zu kommen. Dies bedeutet weniger Schweine im Stall - also von jetzt auf gleich mehr Platz für die Tiere im Stall. Ordentliche Arbeitsverträge für die Mitarbeiter in der Fleischindustrie und die Hygiene in der Produktion verbessern und wöchentlich - unangemeldet - kontrollieren ! Wird das nicht umgesetzt - kaufen wir in Deutschland kein Fleisch mehr - im Ausland sind die Bedingungen der Fleischindustrie wesentlich besser ! Fertig aus - dann haut euch euer Fleisch selber rein !

  • Wenn alle, die sich über die Zustände in der Fleischbranche aufregen, für eine Woche gleichzeitig kein Fleisch mehr kaufen würden... Eine Woche ist überschaubar, auch für den fanatischsten Fleischesser, denke ich. Dann würde die ganze Branche das merken.

    • @Patricia Winter:

      Ich hab zwar für die nächste Woche so und so kein Fleisch auf dem Speisezettel.

      Aber warum genau soll ich den Metzger um die Ecke für die Untaten seiner schlimmsten Konkurrenz bestrafen?

  • herr hofreiter ...

    wenn sie da man nicht zu forsch gesprungen sind.

    kennen sie nicht das birkel-urteil (schleuder-ei)-bgh ?

    genau diese rechtsauffassung könnte sie einholen und zu einem erheblichen schadensersatz verdonnern.

    • @adagiobarber:

      Er ist Politiker. Die Zahlen keinen Schadensersatz.

      In diesem Fall gäbe es auch nicht den geringsten Grund.

  • Das große Problen ist die Konzentration im LEH. Minister Gabriel (SPD) erteilte 2016 zuletzt eine Ministererlaubnis im Übernahmeverfahren EDEKA/Kaiser's Tengelmann und stellte sich so gegen das Kartellamt.

  • 9G
    97287 (Profil gelöscht)

    Man kann auch sein Brot selber backen. Das billigste Weizenmehl Typ 505 kostet im Sonderangebot 39 Cent/ Kg , Hefe 1 Würfel 9 Cent. Bei kaltgeführten Hefeteig reicht das für 4 Bagett a 400 gr.



    1 Kg Mehl, 1/2 Hefewürfel, 1 Esslöffel Salz und 650 ml Leitungswasser. Für 2 Tage habe ich Brot. Biomehl gibt es ab 69 Cent/Kg. Natürlich nicht bei Denns, LPG oder Bio- Company. Alle 2 Wochen ein Stück Fleisch oder Fisch reicht vollkommen.

  • 1,4 Milliarden Vermögen, Kumpel mit Putin das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen.



    Die Arbeiter mieten sich Betten und schlafen im Schichtbetrieb in den Betten, ich dachte das gabs im Mittelalter oder im Manchesterismus



    Ich finde schon dass man Tönnies boykotieren sollte, hier ist skrupelloseste Ausbeutung am Werk einfach nur wiederlich und abstossend.



    Warum sollte man so jemand einen Euro nachschmeissen



    Hier ist die Quelle zu obigen Zahlen



    www.tagesschau.de/...-portraet-101.html



    Ach ja ich boykottiere ihn schon als Vegetarier

  • Boykott von einem Unternehmen ? Und andere dürfen weiter Menschen ausbeuten und fühlende Wesen zersägen ?



    Nein, Boykott dieser erbärmlichen, tierquälerischen und insgesamt barbarischen Umgangsform mit Lebewesen.



    Wer Tiere quält scheint auch kein Skrupel zu haben Menschen auszubeuten.

    • @Traverso:

      "Wer Tiere quält scheint auch kein Skrupel zu haben Menschen auszubeuten."

      Ja. Wobei der Eine oder Andere eher Skrupel bei Tieren hätte...

  • 9G
    90946 (Profil gelöscht)

    Mit diesen Interessenkonflikten - kommunale Behörden sollen überwachen, ob sich der größte Arbeitgeber und Steuerzahler an Vorschriften hält - ist seichte Korruption garantiert.



    Kinder gehen in die gleiche Klasse, Nachbarn arbeiten dort etc.



    Nein, Aufsicht geht nur von außen, oben, von Unbeteiligten.

    • @90946 (Profil gelöscht):

      Volle Zustimmung!

  • Dass man sich bei den Fleischpreisen ein Milliardenvermögen zusammenschlachten kann...



    Und dann direkt noch die Frage, ob Tiere Eiweiß auf zwei bis vier nur zum Verzehr genutzten Beinen sind oder uns nicht völlig unähnliche Individuen.

  • "Die gesamte Branche müsse sich ändern"

    Das ist eine ziemlich flache Betrachtung der Zusammenhänge. Nicht nur die Branche muss sich ändern. Das geht weiter bis zu den 5 dominierenden Handelsketten in DE und hin zum Verbraucher. Das geht weiter bis zu den Gesetzgebern hinsichtlich Arbeitsbedingungen, Gesundheitsschutz, Mindestlöhne, Arbeitszeit, Leiharbeit, ... Das geht weiter hin zu Verwaltungen und Ämter, die Kontrollen durchführen. Da müssen sich alle Parteien in Regierungszusammenhängen bis auf die kommunale Ebene herunter ebenfalls ans Näschen fassen.

    Ansonsten werden die Big Five Handelsketten weiterhin die Preise nach unten durchdrücken.

    • @Rudolf Fissner:

      Warum drücken denn die Handelsketten die Preise? Doch nicht etwa, weil niedrige Fleischpreise Kunden anziehen wie kaum etwas Anderes, oder?

      • @Normalo:

        Und warum funktioniert das Modell?

        Weil der Staat es zulässt. Katastrophale Zustände in der Tierhaltung und ausbeuterische Arbeitsbedingungen kann ein Staat unterbinden. Und wenn er das tut, sind diese Witzpreise schlicht nicht möglich.

        • @warum_denkt_keiner_nach?:

          "Der Staat" ist hier wer? Im Zweifel doch mal primär die gewählten Repräsentanten genau jener Menschen, die auch in deutschen Lebensmittelläden einkaufen und in Bezug auf Fleischherstellung weit überwiegend die beschriebene Priorität ("Billig!") setzen, oder?

          Klassisches Beispiel von funktionierender Demokratie, würde ich sagen. Niemand hat gesagt, das Volk herrsche zwangsläufig weise.

          • @Normalo:

            Und die Menschen denken primär an die Fleischpreise, wenn sie wählen gehen?

            Eine große Schwäche der repräsentativen Demokratie ist, dass man immer ein "Paket" kaufen muss und die Gewählten für die nächsten 4 Jahre tun und lassen können, was sie wollen, ohne das der Wähler eingreifen kann.

            Ein Grund, warum wir dringend Volksabstimmungen brauchen. Dabei wird auch klar, was der Wähler bei einzelnen Themen wirklich will.

        • @warum_denkt_keiner_nach?:

          Richtig. Das ist der richtige Weg für höhere Preise. Staatlich festgesetzte Preise, wie die Grünen und wohl auch SPDler sie fordern, halte ich aber für falsch. Das wäre nur eine staatlich festgesetzte Preisabsprache.

          • @Rudolf Fissner:

            Zumal die Unternehmen dann einfach den höheren Gewinn einstecken könnten, statt die Verhältnisse zu ändern.

  • Wie die Angelegenheit im vereinten Europa, dem Europa der Werte zu regeln ist, dazu gibt es nichts zu sagen? Oder gibt es diese Art der Ausbeutung nur in Deutschland?



    Bloß nicht zu viel verändern, der über Leichen gehende Kapitalismus könnte Schaden nehmen.

  • Vielleicht sollte man jede Fleischproduktion boykottieren.

    • @Jim Hawkins:

      Warum soll ich den Metzger boykottieren, der Fleisch aus der Region anbietet? Da kann ich mir die Bedingungen anschauen, unter denen das Fleisch produziert wird. Gerade er muss doch als Alternative zu Tönnies und Co. unterstützt werden.

      • @warum_denkt_keiner_nach?:

        Ich lebe jetzt seit einem halben Jahr vegetarisch. Naja, ab und zu mal ein Fisch.

        Aus gesundheitlichen Gründen. Und alle meine Blutwerte haben sich um wenigstens 20 % verbessert. Das ist das eine.

        Das andere ist, mittlerweile ekle ich mich vor Wurst und Fleisch. Und das mag sich jetzt kindlich anhören, aber die Vorstellung etwa einem süßen Kälbchen einen Bolzen ins Gehirn zu schießen, um ihm dann die Kehle durchzuschneiden, erscheint mir grausam und überflüssig.

        Aus der Nummer komme ich wohl nicht mehr raus.

        • @Jim Hawkins:

          Jeder soll nach seiner Fasson selig werden. Hauptsache, man fühlt sich wohl.

        • @Jim Hawkins:

          "ch lebe jetzt seit einem halben Jahr vegetarisch. Naja, ab und zu mal ein Fisch."

          Also ein Pescarier... :)

        • 9G
          90946 (Profil gelöscht)
          @Jim Hawkins:

          Zum großen Teil ist das mit der fleischlosen Ernährung einfach Gewohnheitssache. Wenn der Schalter erst mal umgelegt ist, ist es so leicht, dass es schwerfällt zu begreifen, warum wir uns das mit der monströsen Schlachtindustrie überhaupt antun.



          Seit 40 Jahren esse ich aus gemischten Gründen kaum je Fleisch/ selten Fisch und meine Blutwerte sind schon ebenso lang top.

          • @90946 (Profil gelöscht):

            Es gibt viele Wege, die Blutwerte top zu halten. Wenig Fleisch ist einer...

    • @Jim Hawkins:

      Popcorn stattdessen? : www.stern.de/genus...ilanz-7946798.html

      • @Rudolf Fissner:

        Wer's braucht. Mittlerweile gibt es selbst in der Spitzenküche ein breites Angebot an vegetarischen Rezepten und Gerichten.