Nach Bootsunfall vor syrischer Küste: Offenbar mehr als 90 Tote

17 weitere Leichen wurden vor der syrischen Küste geborgen. Am Mittwoch war ein Boot gesunken, ein zweites aus dem Libanon erreichte einen Hafen.

Drei Menschen, davon zwei in T-Shirts mit dem Symbol des Roten Halbmondes, stehen im flachen Küstengewässer, etwas weiter hinten schwimmt ein Mann.

Mitglieder des syrischen Roten Halbmonds an der Küste vor der Stadt Tartus Foto: Syrian Red Crescent/reuters

Nach dem Bootsunfall vor der syrischen Küste haben syrische Hel­fe­r*in­nen am Samstag weitere 17 Leichen geborgen – die Bergung der Toten sowie die Suche nach möglichen Überlebenden geht auch am Sonntag vor der Küste der Stadt Tartus weiter. Das Boot mit Mi­gran­t*in­nen aus dem Libanon war am Mittwoch gesunken.

Auf dem Boot waren nach Angaben von Überlebenden rund 120 bis 150 Menschen, darunter auch Kinder und geflüchtete Sy­re­r*in­nen und Palästinenser*innen, die nun auch aus dem Libanon flüchten wollten. Das syrische Staatsfernsehen sprach am Samstag von 94 Toten, die staatliche syrische Nachrichtenagentur Sana berichtete, dass 20 Menschen gerettet wurden. Mindestens 14 Überlebende wurden demnach in syrischen Krankenhäusern behandelt, zwei von ihnen auf der Intensivstation. Es ist der tödlichste Schiffsunfall zwischen Syrien und dem Libanon der vergangenen Jahre.

„Herzzerreißende Tragödie“

Der UN-Flüchtlingskommissar Filippo Grandi sprach von einer „herzzerreißenden Tragödie“. Der Leiter des UN-Hilfswerks für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA) Philippe Lazzarini sagte: „Niemand geht leichtfertig in diese Todesboote.“ Es müsse mehr getan werden, um eine bessere Zukunft zu bieten und dem Gefühl der Hoffnungslosigkeit im Libanon und der gesamten Region entgegenzuwirken.

Seit drei Jahren ist der Libanon in einer tiefen Wirtschaftskrise, vor allem für Sy­re­r*in­nen oder Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen gibt es keine Jobs, aber auch Li­ba­ne­s*in­nen leiden unter dem starken Verfall der lokalen Währung. Essen, Medizin, Wasser und Strom sind so im Preis gestiegen, dass die Menschen an allem sparen müssen. Selbst Staatsangestellte verdienen nur noch rund 40 Euro im Monat. Deshalb sehen viele Menschen als Ausweg nur noch die gefährliche Fluchtroute über das Mittelmeer.

Seit 2020 wagen immer mehr Menschen die Überfahrt von dem nördlichen Tripoli aus. Die meisten wollen nach Zypern, das 175 Kilometer entfernt liegt. Weil Zypern in den vergangenen Monaten Hunderten Mi­gran­t*in­nen das Anlegen in seinen Häfen verweigert hat, möchten einige sogar über die Seeroute nach Italien.

Bereits mehr als 1.000 Tote in diesem Jahr

Jedes Jahr sterben Menschen bei der Flucht übers Mittelmeer. Laut IOM sind in diesem Jahr allein auf der zentralen Mittelmeerroute zwischen Libyen, Tunesien, Malta und Italien bereits mehr als 1.000 Menschen ertrunken.

Seit 2014 gibt es keinen europäischen, staatlichen Such- und Rettungsdienst im zentralen Mittelmeer. Mehrere zivilgesellschaftliche Organisationen wie Sea Watch, Sea Eye, Open Arms und SOS Mediterranée kümmern sich im Mittelmeer um die zivile Seenotrettung. Vergangenes Jahr haben sie nach eigenen Angaben rund 8.000 Menschen gerettet.

Weiteres Boot mit mehr als 200 Menschen aus dem Libanon gerettet

Die Nichtregierungsorganisation SOS Humanity ist im zentralen Mittelmeer unterwegs. Vergangene Woche rettete sie mit ihrem Schiff, der Humanity 1, insgesamt 414 Menschen von vier Booten, darunter eines mit 207 Menschen, das aus dem Libanon kam und in Seenot geriet.

„Das Internationale Seerecht schreibt vor, dass Seenotrettung für alle Schiffe und Besatzungen Pflicht ist“, erklärt Petra Krischok, Pressesprecherin von SOS Humanity, der taz. „Die geretteten Menschen müssen an einen sicheren Ort gebracht werden, an dem keine Gefahr für Leib und Leben droht, sie eine Grundversorgung bekommen. Daher bringen wir die aus Seenot Geretteten beispielsweise nie nach Libyen, sondern grundsätzlich nach Europa.“

Die Organisation fragte nach eigenen Angaben innerhalb von fast zwei Wochen insgesamt 18 Mal bei den italienischen Behörden an, bis sie einen Hafen zugewiesen bekam. Das Schiff lag vor Sizilien und musste dann zwei Tage fahren, um anzulegen. Am Donnerstag konnten die Menschen im Hafen von Tarent endlich von Bord gehen. Zuvor waren das Wasser und Nahrungsmittel knapp geworden. „Unsere Erfahrung ist, dass überhaupt nur noch Italien einen Hafen zuweist, nach oft langer Wartezeit. Italien wird von der EU weitgehend alleine gelassen mit den Geflüchteten.“

Noch immer würden die Migrant*innen, die über das Mittelmeer kommen, innerhalb der EU nicht gerecht verteilt. Außerdem würden Seenotfälle fast nur noch von der zivilen Notrufhotline Alarm Phone oder zivilen Aufklärungsflugzeugen gemeldet oder von den Rettungsschiffen selbst entdeckt. Fast die Hälfte der Schiffs-Besatzung auf der Humanity 1 arbeitete ehrenamtlich.

Koalitionsvertrag sieht staatlich koordinierte Rettung vor – noch ist nichts passiert

Währenddessen ist das Budget der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) in den vergangenen Jahren stark angestiegen. Für 2022 lag es bei 754 Millionen Euro, darunter sind auch deutsche Steuergelder. Laut der Nachrichtenagentur dpa waren Anfang des Jahres rund 150 deutsche Po­li­zis­t*in­nen an den Einsätzen von Frontex in Griechenland und auf dem Balkan beteiligt.

Ein Untersuchungsbericht der EU-Antibetrugsbehörde Olaf bestätigte dieses Jahr, was schon lange bekannt war: Dass die griechische Küstenwache von Frontex mitfinanzierte Boote für Pushbacks einsetzt und Frontex die sogenannte libysche Küstenwache finanziert. Allein 2021 wurden laut einem Jahresbericht der UN-Migrationsbehörde über 32.450 Menschen von der Küstenwache abgefangen und nach Libyen zurückgebracht. Dort drohen ihnen willkürliche Inhaftierungen, unmenschliche Bedingungen, Vergewaltigungen, Folter und andere Gewalt.

Im Koalitionsvertrag der Ampel steht, dass die EU Menschen nicht im Mittelmeer ertrinken lassen darf und dass „eine europäisch getragene und staatlich koordinierte Seenotrettung im Mittelmeer“ angestrebt wird. Umgesetzt wurde das noch nicht.

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