Nach Anschlag in Paris: Getötet im Land der Zuflucht
Nach dem Angriff auf ein kurdisches Kulturzentrum in Paris gibt der Täter ein rassistisches Motiv an. Die kurdische Gemeinde hat einen anderen Verdacht.
Außerdem habe er Schwierigkeiten gesehen, seinen Colt 45 unter der Jacke zu laden. Der pensionierte Lokführer ging deshalb wenige Stunden später zum kurdischen Kulturzentrum Ahmet Kaya in der Pariser Rue d’Enghien. Dort erschoss er zwei Männer und eine Frau und verletzte in einem kurdischen Friseurladen ein paar Häuser weiter drei Männer, bevor ein Kunde ihn überwältigte.
In ersten Verhören gab William M. einen „Hass auf Ausländer, der völlig krankhaft geworden ist“, zu Protokoll. Ihn selbst beschrieben Angehörige als „depressiven, schweigsamen, einzelgängerischen“ Mann. Am Freitag habe er sich mit seiner letzten Kugel das Leben nehmen wollten, teilte Staatsanwältin Laure Beccuau mit. „Aber bevor ich mich umbringe, hatte ich das Bedürfnis, Migranten, Ausländer zu ermorden“, zitierte Beccuau den 69-jährigen Franzosen, der vorübergehend in die Psychiatrie überstellt wurde.
Auslöser für seinen Hass sei ein Überfall auf seine Wohnung 2016 gewesen, bei der er den offenbar ausländischen Dieb in die Flucht schlug. Das kurdische Kulturzentrum kannte er, weil es nicht weit von der elterlichen Wohnung entfernt ist. Auch wenn die Staatsanwaltschaft beim Täter kein besonderes Interesse für die Situation der Kurd:innen feststellte, warf der Rentner diesen doch vor, im Kampf gegen die Terrororganisation „Islamischer Staat“ Gefangene gemacht zu haben, statt die Dschihadisten zu töten. Eine Auswertung seines Computers und seines Smartphones ergab keine Verbindung zu einer „extremistischen Ideologie“. Die Anti-Terror-Staatsanwaltschaft wurde deshalb nicht eingeschaltet.
Täter bereits für rassistischen Angriff verurteilt
Bereits vor einem Jahr hatte William M. einen rassistisch motivierten Angriff verübt: Er griff mit einem Säbel ein Lager von Geflüchteten im 12. Stadtbezirk von Paris an und zerstörte die Zelte der dort lebenden Menschen. Nach einem Jahr in Haft wurde er am 12. Dezember unter Auflagen entlassen.
Der Demokratische Kurdenrat in Frankreich (CDKF), der seinen Sitz ebenfalls in der Rue d’Enghien hat, bezweifelt das rein rassistische Motiv der Tat und sieht sich als Ziel eines aus der Türkei gesteuerten Attentats. Es handele sich um einen „infamen terroristischen Angriff“, der nach mehreren Drohungen durch die Türkei erfolgt sei, hieß es in einer Pressemitteilung. Der CDKF warf Frankreich „Nachsicht“ mit dem „faschistischen türkischen Regime“ vor. Diese Nachsicht öffne die Türen für Anschläge gegen Kurden in Frankreich. Am Sonntag wurde laut der kurdischen Nachrichtenagentur Firat ein junger Kurde in einem Friseurladen in Roubaix im Norden Frankreichs von einem Türken mit dem Messer verletzt.
Kurd:innen, die die Zeitung Libération im Zentrum Ahmet Kaya befragte, äußerten die Ansicht, dass William M. im Gefängnis von protürkischen Insassen manipuliert und so zu dem Angriff verleitet worden sei. Innenminister Gérald Darmanin kündigte nach den tödlichen Schüssen einen verschärften Schutz für kurdische und türkische Einrichtungen an.
Vor fast genau zehn Jahren waren in der Rue Lafayette unweit des kurdischen Kulturzentrums drei Kurdinnen getötet worden. Hinter der Tat am 9. Januar 2013 wurde der türkische Geheimdienst vermutet, doch der Hauptverdächtige, ein türkischer Nationalist, starb 2017 kurz vor Prozessbeginn. Die Angehörigen setzten 2019 neue Vorermittlungen durch, die allerdings durch die Weigerung der französischen Regierung behindert werden, dafür Geheimdienstdokumente freizugeben.
Am Freitagabend und am Samstag versammelten sich in Paris Tausende zu Gedenkdemonstrationen für die Opfer des Anschlags in der Rue d’Enghien. Dabei kam es zu Zusammenstößen mit der Polizei. Demonstrierende warfen Gegenstände auf die Beamt:innen, die mit dem Einsatz von Tränengas reagierten. Autos und Mülltonnen brannten, Bushaltestellen wurden zerstört.
Der Geschäftsmann Remo Kurt warb in der Zeitung Le Monde um Verständnis für die Demonstrierenden. „Sie haben gesehen, wie ihre Angehörigen in der Türkei festgenommen und sogar getötet wurden.“ Es sei deshalb für sie unerträglich, dass das nun in dem Land erneut passiere, in dem sie Zuflucht gesucht hätten. „Sie können sich nicht vorstellen, dass es eine andere Gewalt als den türkischen Staat gibt, die sie im Visier hat.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
„Männer“-Aussage von Angela Merkel
Endlich eine Erklärung für das Scheitern der Ampel