NSU-Aufklärung in Hessen: Ein rätselhaftes Gespann
Als Halit Yozgat in Kassel vom NSU erschossen wurde, war ein Verfassungsschützer am Tatort. Was wollte er da?
BERLIN taz | Fast neun Jahre lang hatte niemand diesen Satz bemerkt, jetzt schlägt er umso heftiger ein. „Ich sage ja jedem, wenn er weiß, dass irgendwo so etwas passiert, bitte nicht vorbeifahren.“ Der Satz fiel eher beiläufig, als ein Geheimschutzbeauftragter des hessischen Verfassungsschutzes im Mai 2006 bei seinem Kasseler Kollegen Andreas Temme anrief.
Für Temme sah es damals gar nicht gut aus. Die Polizei hatte herausgefunden, dass der Verfassungsschützer bei einem Mord am Tatort war – sich aber nicht als Zeuge gemeldet hatte. Halit Yozgat war in einem Kasseler Internetcafé erschossen worden. Mit der Ceska, mit der zuvor bereits acht andere getötet wurden. Nur eins war damals noch nicht bekannt: Hinter der Mordserie steckte der rechtsextreme NSU.
Die Polizei überwachte damals Temmes Telefone, das Gespräch wurde mitgeschnitten. Wörtliche Abschriften davon aber wurden erst jetzt erstmals angefertigt – von den Anwälten der Familie Yozgat. Sie lesen den Satz als Beleg für einen schwerwiegenden Vorwurf: Der Verfassungsschützer Andreas Temme sei mitnichten zufällig und privat am Tatort gewesen, wie er behauptet.
Stattdessen habe er „bereits vor dem Mord an Halit Yozgat konkrete Kenntnisse von der geplanten Tat, der Tatzeit, dem Tatort, dem Tatopfer und den Tätern“ gehabt. Der Verfassungsschutz hätte daher nicht nur den Mord an Yozgat verhindern können, sondern auch den späteren an der Polizistin Michèle Kiesewetter, der ebenfalls dem NSU zugeschrieben wird.
Die Bundesanwaltschaft weist diese Interpretation vehement zurück. Sie wirft den Anwälten eine „verzerrte Darstellung“ vor. Temmes Kollege habe nur klarmachen wollen, dass kein Verfassungsschützer den Verdächtigen daheim besucht habe.
Vertuschung oder Verschwörung? Eher nicht
Doch welche dieser Lesarten stimmt? Das ist zur zentralen Frage im NSU-Untersuchungsausschuss des hessischen Landtages geworden. Die Opposition erhebt schwere Vorwürfe gegen den früheren Innenminister und heutigen Ministerpräsidenten Volker Bouffier (CDU), die schwarz-grüne Koalition steht unter Druck.
Der Ausschuss erwägt, die Frage der möglichen Verwicklung Temmes und der dubiosen Rolle des Verfassungsschutzes vorzuziehen. Doch die Deutung des Geschehens dürfte schwieriger werden, als die klaren Positionen von Bundesanwaltschaft und Nebenklage vermuten lassen. Für beide Sichtweisen gibt es nur Indizien. Je näher man sich den Fall Temme anschaut, umso mehr Widersprüche werden sichtbar.
In dem Telefonat, dessen Abschrift der taz vorliegt, bereitet der Geheimschutzbeauftragte den Kollegen Temme auf eine dienstliche Erklärung vor, die dieser zum Fall abgeben muss. Er rät Temme, sich an die Fakten zu halten. Temme solle seine Version „einfach so, wie Sie es mir geschildert haben“, aufschreiben. Ein Vorgesetzter erinnert Temme am Telefon, man habe ihm schon gesagt, „du sollst nichts verschweigen und nichts da weglassen. Und ich hoffe, du hast das auch so gemacht?“
Nach Vertuschung oder Verschwörung klingt das nicht.
Doch die Telefonprotokolle belegen auch, wie fürsorglich die Kollegen sich um Temme kümmerten, der unter Mordverdacht stand. Sie erkundigten sich nach seinem Befinden, eine Vorgesetzte traf sich mit ihm an einer Autobahnraststätte. Warum sollte dann kein Kollege bei ihm vorbeifahren?
Verfassungsschutz und Innenministerium in Hessen hatten neun Jahre Zeit, die Ungereimtheiten aufzuklären, die die Theorie nähren, dass der Verfassungsschützer und sein Amt in den Mord an Yozgat verstrickt seien – oder zumindest einen Tipp bekommen hätten.
Deckname „Gemüse“
Im Zentrum stehen der Verfassungsschützer Andreas Temme, Tarnname Alexander Thomsen – und einer seiner Spitzel, Benjamin G. – Deckname „Gemüse“ –, ein Mann aus der Kasseler Neonazi-Szene. Bereits 2006 mauerte der Verfassungsschutz, schirmte Temmes Zuträger mit freundlicher Unterstützung Bouffiers von den Mordermittlern ab. Bei der Blockadehaltung bleibt es bis heute.
Aktuelles Beispiel: eine Anfrage, über die der Innenausschuss des Landtags heute beraten wird. Die Linksfraktion wollte wissen: Wie genau wogen die Behörden beim V-Mann „Gemüse“ den Schutz der Vertraulichkeit gegen die Aufklärung des Mordes ab? G. bekam für seine Vernehmung durch die Bundesanwaltschaft und das Oberlandesgericht in München nur eine beschränkte Aussagegenehmigung. Der NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags erhielt nicht die komplette V-Mann-Akte.
Hätte ein offener Umgang mit dem V-Mann wirklich irgendein Risiko für das „Wohl des Landes“ bedeutet, wie Bouffier der Staatsanwaltschaft 2006 mitteilte?
Nach dem Mord an Yozgat verhielt Temme sich höchst merkwürdig. Die Ermittler gehen davon aus, dass er im Hinterzimmer des Internetcafés am Computer surfte, während Halit Yozgat im Eingangsraum zwei Schüsse in den Kopf trafen. Das Café war gut besucht an diesem Apriltag im Jahr 2006. Die Verbindungsdaten der Kunden halfen den Ermittlern, den Zeitpunkt des Mordes einzugrenzen: Yozgat musste gegen 17 Uhr erschossen worden sein.
Um 17.01 Uhr loggte sich Temme an seinem Computer aus. Er hatte sich im Chatportal ilove.de herumgetrieben. Von dem Mord bekam er nach eigenen Angaben nichts mit, hörte als einziger Kunde keine Schüsse. Auf dem Weg nach draußen will er sich vergeblich nach Yozgat umgesehen und dann 50 Cent auf dessen Schreibtisch gelegt haben.
Mehrere Anrufe
Konnte der Beamte den hinter seinem Schreibtisch liegenden Schwerstverletzten übersehen haben? Warum hielt er sich am Tatort auf? Gab es einen Zusammenhang mit seiner Arbeit für den Verfassungsschutz?
Hier kommt Temmes V-Mann ins Spiel: Benjamin G., Deckname „Gemüse“. Temme kannte ihn seit gut zweieinhalb Jahren. Die Ermittler attestierten dem Beamten „eine vertrauliche, fast freundschaftliche Beziehung“ zu seinem V-Mann. Unter Temmes Führung erwarb sich G. den Ruf als verlässliche Quelle. Temme und „Gemüse“ – ein rätselhaftes Gespann.
Am Mordtag ruft G. um kurz nach 13 Uhr auf Temmes Handy an. Nur 17 Sekunden dauert die Verbindung. Am Nachmittag, etwa 50 Minuten vor den Schüssen, ruft Temme den V-Mann aus seiner Kasseler Dienststelle zurück. Diesmal reden sie mehr als 11 Minuten.
Worum dreht sich dieses Gespräch? Hatte Benjamin G. dem Verfassungsschützer einen Tipp aus der rechten Szene weitergereicht? Schließlich hatten Temme und seine Kollegen Ende März von ihrer Wiesbadener Chefin den ausdrücklichen Auftrag bekommen, sich unter ihren V-Leuten in Sachen Ceska-Mordserie umzuhören.
Nach den Telefonaten am Tattag befragt, versicherte G. den BKA-Ermittlern 2012, er könne sich nicht mehr genau erinnern. Temme machte unklare, widersprüchliche Angaben. Fest steht: 20 Minuten nach dem zweiten Telefonat mit G. stempelt Temme seine Dienstkarte in der Stechuhr ab, verlässt die Außenstelle der Behörde. Es ist 16.43 Uhr. Er macht sich auf zu Halit Yozgats Café.
So uneindeutig wie die beiläufige Bemerkung des Geheimschutzbeauftragten im Gespräch mit Temme ist auch die Rolle des V-Mannes „Gemüse“. Der defensive Umgang des Verfassungsschutzes mit ihm verwundert. Schließlich war der Neonazi nur eine Randfigur in der Szene.
Der kleine Bruder
Benjamin G. wuchs in zerrütteten Verhältnissen auf, die Lehre brach er ab, jobbte als Reinigungskraft. Als Teenager folgte er seinem älteren Stiefbruder in die rechte Szene. Christian W. war Anführer der militanten „Kameradschaft Kassel“. G., eher ein Mitläufer, konnte dem Verfassungsschutz Informationen über den Stiefbruder und dessen Kumpels beim Kasseler „Sturm 18“ oder in der „Blood & Honour“-Szene liefern.
Den Verfassungsschutz musste dieses militante Milieu in Nordhessen interessieren. Es war gewalttätig und eng verdrahtet nach Niedersachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt. Doch das Amt setzte ihn auf die „Deutsche Partei“ an – eine unbedeutende Altherren-Splittergruppe. Eine kuriose Entscheidung.
Wenn G. aber für diese Kleinstpartei zuständig war, wieso schirmte der Verfassungsschutz ihn vor der Mordkommission ab? Worin bestand und besteht das Sicherheitsrisiko? Hatte G. über rechtsextreme Kumpels doch einen Tipp bekommen und Temme zu Yozgats Café gelotst?
Bisher ist das nicht mehr als eine verwegene Theorie, Belege gibt es nicht. G. versicherte dem BKA, er habe in der rechten Szene von der Mordserie nichts gehört.
Statt G. zur Offenheit zu ermutigen, stellte der Verfassungsschutz dem V-Mann für die Zeugenaussagen einen Anwalt zur Seite. Auf Staatskosten. Das sei ein „Einzelfall“, räumte das Innenministerium auf Nachfrage der Linksfraktion ein. Es hänge nicht zuletzt von den „intellektuellen Fähigkeiten“ oder der „Stressresistenz“ des Zeugen ab. Außerdem habe das Amt G. ein Tagungsgeld und Fahrtkosten über 172,80 Euro bezahlt.
Die Puzzleteile im Fall Yozgat ergeben kein schlüssiges Bild. Das hessische Innenministerium muss endlich die fehlenden Teile aus den Verfassungsschutzakten freigeben.
„Damit wir nicht mehr über Spekulationen, sondern über Fakten reden“, verlängte kürzlich ein hessischer Politiker, müsse alles aufgeklärt werden. Es war der Ministerpräsident Volker Bouffier.
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