NSA-Ausspähung in Frankreich: Bei den Großkopferten mitgehört
Die USA haben die französische Elite gezielt ausspioniert. Das Land ist entsetzt. Dabei unterhält es selbst ein Schnüffelsystem.
PARIS taz | Einer nach dem anderen traten in Paris die Minister am Montag vor die Mikrofone, um ihre Empörung zu äußern. Die Zeitung Le Monde hatte gerade einen Teil ihrer Enthüllungen über die Aktivitäten des US-Geheimdienstes NSA in Frankreich veröffentlicht. Weniger die Tatsache des Lauschangriffs als das ungeheure Ausmaß der heimlich gesammelten Daten und die vorsätzliche Bespitzelung von angeblichen Freunden in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und der Diplomatie hat überrascht.
Laut den Dokumenten aus dem Fundus des Whistleblowers Edward Snowden überwachte die NSA zwischen dem 10. Dezember 2012 und dem 8. Januar 2013 mehr als 70 Millionen Telefonverbindungen in Frankreich. Bei bestimmten Nummern wurden die Gespräche automatisch aufgezeichnet, SMS-Kurznachrichten bei bestimmten Schlüsselwörtern abgefangen.
Zum Vergleich: Nach den gleichen Dokumenten wurden in diesem Zeitraum etwa 360 Millionen Gespräche in Deutschland überwacht, meldet zum Beispiel Cryptome.org, eine Whistleblower-Website. Welche Telefonnummern das in Deutschland sind und ob auch Gespräche und SMS betroffen sind wie in Frankreich, darüber liegen keine Unterlagen vor.
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Premierminister Jean-Marc Ayrault erwartete am Montag von den USA „klare Auskunft zu Gründen dieser Praktiken und vor allem Transparenz hinsichtlich der Bedingungen, unter denen diese Praktiken eingestellt werden müssen“. Auf die Antwort wartet er noch immer.
In der nationalen Souveränität verletzt
Frankreich arbeitet nach Informationen des NDR und der Süddeutschen Zeitung mit amerikanischen und britischen Geheimdiensten zusammen und liefert ihnen systematisch Informationen. Schon vor einiger Zeit habe die französische Regierung unter dem Codenamen „Lustre“ ein sogenanntes Drittparteiabkommen mit dem Geheimdienstbündnis „Five Eyes“ geschlossen, berichtet die Süddeutsche in ihrer Wochenendausgabe. Dies gehe aus Dokumenten des früheren NSA-Mitarbeiters Edward Snowden hervor.
Dem Bündnis gehören Großbritannien, Neuseeland, Australien und Kanada an. Nben Frankreich sollen auch Israel, Schweden und Italien einen ähnlichen Kooperationsvertrag mit dem britischen und amerikanischen Geheimdienst geschlossen haben. (dpa)
Was Frankreich am meisten stört, ist nicht nur die gezielte Industriespionage in Spitzentechnologiekonzernen wie Alcatel-Lucent (dem französischen Pendant zu Siemens), sondern generell die Vorstellung, von den USA in seiner nationalen Souveränität verletzt zu werden. Es handelt sich um das gezielte Ausspähen der Elite in Verwaltung, Politik und Wirtschaft.
Der frühere Abgeordnete Bernard Carayon, ein Spezialist für Industriespionage, wirft den Verantwortlichen Frankreichs vor, sie hätten nicht auf Warnungen gehört. Wer meine, zwischen Freunden könne es keinen „wahren Wirtschaftskrieg“ geben, täusche sich gewaltig. Carayon findet es „zu nett“, nun bloß den US-Botschafter ins Außenministerium zu zitieren. Er meint, die EU müsse als Signal ihrer Verstimmung wenigstens die Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen mit den USA stoppen.
Zwei von der NSA ausgenutzte Schwachstellen sind laut der Ministerin für Innovation, Fleur Pellerin, speziell von nationalem Interesse und müssten mit französischer oder europäischer Kontrolle geschützt werden: die Clouds mit sensiblen Firmendaten sowie die Glasfaserkabel im Atlantik der Alcatel-Filiale ASN. Ein anderes Problem mit noch unabsehbaren Folgen (zum Beispiel für den Kommerz und Finanztransfers) ist die sehr wahrscheinliche Manipulation und Unterwanderung der Verschlüsselungssysteme.
Präsident François Hollande hat ebenfalls seinen Amtskollegen Obama in Washington angerufen. Er wollte wohl wissen, ob sein privates Handy wie das von Angela Merkel belauscht wird. Dem amerikanischen Präsidenten schien diese ganze Aufregung nicht einmal besonders peinlich zu sein. Ein Regierungssprecher in Washington gab zu verstehen, die Proteste seien pure Heuchelei, da nicht nur alle Staatsführungen über die Überwachung informiert waren, sondern selbst auch bei Freund und Feind spionieren.
Verlegenheit in den offiziellen Protesten
Wer das nicht wahrhaben wolle, sei von einer „merkwürdigen Naivität“, meint der frühere französische Geheimdienstchef Bernard Squarcini in Le Figaro: „Alle Nachrichtendienste wissen, dass die Länder, die im Kampf gegen den Terrorismus zusammenarbeiten, sich gegenseitig überwachen. Die Amerikaner spionieren bei uns im Handel und in der Wirtschaft wie wir bei ihnen auch. Es ist im Interesse der Nation, unsere Unternehmen zu verteidigen. Niemand lässt sich da etwas vormachen.“
Das stimmt so zumindest teilweise – und erklärt eine gewisse Verlegenheit in den offiziellen Protesten wegen der NSA. Frankreich hat, wenn auch in viel bescheidenerem Rahmen, eigene Schnüffler. Dieses kleine französische Schwesterchen von Big Brother in den USA befindet sich in Paris in der Zentrale des Geheimdienstes DGSE am Boulevard Mortier im 20. Bezirk. Dort wird laut französischen Medienberichten so ziemlich alles belauscht, was dem Nachrichtendienst zu Ohren kommt.
Die gesetzliche Grundlage dafür ist ziemlich flou, also verschwommen. Daran scheint sich in Frankreich kaum jemand zu stoßen, ganz im Unterschied zu Deutschland, wo die Praktiken der Stasi ein nachhaltiges Bedürfnis nach Datenschutz und Respektierung der Privatsphäre geschaffen haben. Falls aber auch in Frankreich in systematischer und massiver Weise die ganzen Kommunikationsmittel im In- und Ausland überwacht, aufgezeichnet und ausgewertet werden, wäre das laut der obersten Datenschutzverantwortlichen Isabelle Flaque-Pierrotin „außergesetzlich“.
Klarer sagt dies in der Libération Rena Tangens von der deutschen NGO Digital Courage: „Die Verletzung der Privatsphäre der Journalisten, Anwälte und Politiker ist eine Gefahr für die Demokratie. Wenn man solche Methoden akzeptiert, muss man auch die mit Folter in Pakistan oder Guantánamo erpressten Informationen tolerieren. Das ist das Ende des Rechtsstaats.“
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