piwik no script img

NS-Helfer in Den HaagDas Recht zu wissen, wer die Angehörigen verriet

Kommentar von Tobias Müller

Es ist überfällig, dass Kollaborations-Akten aus der NS-Zeit freigegeben werden. Besser wäre es aber, wenn die Akten digital zugänglich wären.

Akten imniederländischen Nationalarchiv in Den Haag Foto: Dean Mouhtaropoulos/getty images

A leid Wolfsen hat einen Punkt. Der Chef der niederländischen Datenschutzbehörde erklärte kurz vor dem Jahreswechsel: „Man kann nicht zu jemand sagen: Sie sind jetzt 90 Jahre alt, Ihre Privatsphäre ist weniger wichtig!“ Damit meinte er noch lebende Personen, über die im Archiv der Kollaboration mit den Deutschen beschuldigter Nie­der­län­de­r*in­nen Akten angelegt sind. Diese hätten an diesem 2. Januar online allgemein zugänglich werden sollen – was Wolfsens Behörde unter Berufung auf die Privatsphäre im letzten Moment verhinderte.

Die Behörde beruft sich auf Verstöße gegen das Datenschutzgesetz. Das zuständige Nationalarchiv betont dagegen, man habe sich bei dem Projekt an alle Vorschriften gehalten und sei mit Angehörigen von Kol­la­bo­ra­teu­r*in­nen regelmäßig in Kontakt gewesen. Die Entscheidung zeigt, wie heikel das Thema Zweiter Weltkrieg nach wie vor ist in diesem Land. Vorerst ist nur der klassisch analoge Zugang zu den Akten möglich.

Dass eine allgemeine Öffnung der Archive nur in Übereinstimmung mit datenschutzrechtlichen Bestimmungen geschehen kann, ist unbestritten. Rechtsstaatliche Bestimmungen sind dazu da, um sie einzuhalten. Es wird weitere Verhandlungen benötigen zwischen Angehörigen von Opfern und Tä­te­r*in­nen sowie juristischen und historischen Expert*innen, um sich auf die Modalitäten einer vollständigen Öffnung der Archive zu verständigen. Dieses Ziel nämlich wird zwar vorerst aufgeschoben, deswegen aber nicht aufgehoben – und das sollte es auch nicht.

Digital ist alternativlos

Vielmehr ist der allgemeine digitale Zugang zu den Akten alternativlos – gerade in Zeiten, in denen die letzten Zeit­zeu­g*­in­nen sterben und sich weltweit Fachleute fragen, wie man die Erinnerung an den Holocaust für künftige Generationen lebendig hält. In Zeiten, in denen Antisemitismus grassiert, wie man es vor 20 Jahren nicht für möglich gehalten hätte. In denen Geschichte umgedeutet wird, Donald Trump seine Geg­ne­r*in­nen als „Faschisten“ bezeichnet oder Wladimir Putin die seines autoritären Russlands als „Nazis“. In denen AfD oder FPÖ nach der Macht greifen und ihre europäischen Partnerparteien diese schon haben – auch in den Niederlanden.

Ein möglichst barrierefreier Zugang ist in diesem Kontext auch von großem Belang für die internationale Forschung. Vor allem aber ist es eine gesellschaftliche Verpflichtung gegenüber oft (hoch-)betagten Angehörigen, die nicht nur jahrzehntelang mit den Löchern leben mussten, die ihre ermordeten Familienmitglieder hinterließen, sondern nicht einmal Informationen darüber hatten, wer von ihren Landsleuten sie einst verriet.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

21 Kommentare

 / 
  • Vielen Dank für Eure Beiträge, wir haben die Kommentarfunktion vorübergehend geschlossen. Wenn die Diskussionen ausfallend werden, zu weit vom Thema abweichen, oder die Zahl der Kommentare zu groß wird, wird das manchmal leider nötig. Sonst können wir die Kommentare nicht mehr zeitnah moderieren.

  • Die Frage ist, ob die Tatsache der Kollaboration jemals als Teil der Privatsphäre hätte geschützt werden dürfen.

  • Vorweg - daß die Gemengelage bei den Niederländern eine besondere ist - kann frauman ua bei Harry Mulisch et al nachlesen.



    Bin auch immer etwas zögerlich - ehe wir nicht vor der eigenen Tür…But

    Entnazifizierungsakten online stellen zB NRW machts vor



    “Liebe NutzerInnen,

    wie Sie vielleicht schon bemerkt haben sind seit Kurzem die Digitalisate der nicht gesperrten Entnazifizierungsakten online auf unserer Seite recherchier- und einsehbar. Dabei ist die Überlieferung der Ausschüsse der Regierungsbezirke Düsseldorf und Münster bereits komplett und die des Regierungsbezirks Köln zum großen Teil verfügbar. Eine Liste der recherchierbaren Ausschüsse finden Sie unter den Downloads zum Thema….



    www.archive.nrw.de...erungsakten-online



    Ob unsrer Mittelständler Black Rocker aus Westfälisch Sibirien schon “Mein Opa war kein Nazi“ dessen Akten “Letzter Halt Brilon🌳🌲🌳



    Sich die Akten seines Großvaters - Josef Paul Sauvigny “… Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung sprach er „von einer Kraft, die uns leitet“, beschwor „den Willen, der uns eint“ und von Hitler als einem „Führer, der uns ruft, vergessend des Parteienhass…“



    Zu Gemüte geführt hat?!

  • Ich bin wie viele meiner Mitdiskutanten hier der Meinung, dass durch die Öffnung der Akten mehr Schaden als Nutzen angerichtet wird, zumal von offizieller niederländischer Seite betont wird, dass eine entsprechende Akte per se keinesfalls eine NS-Täterschaft beweist. Ich fände es daher klüger weil für den inneren Frieden besser, das Archiv für die zeitgeschichtliche Forschung zu öffnen (was wahrscheinlich längst erfolgt ist) und ansonsten den Zugang stark zu limitieren.

    • @Dobby:

      Das ist eine der großen Fehlschlüsse das mehr Wahrheit nur schadet. Das Gegenteil ist der Fall. Verstecken, Lügen, Mauscheln und alle Formen von (legaler+illegaler) Bestechung zerstören alle Demokratien weltweit.



      Im Dunkeln blühen und gedeihen alle Arten von Krankheiten+Verwesung. Im Licht lösen sie sich auf!

      • @Arjun G. G.:

        Mit dieser Argumentation ist der glaeserne Buerger ja quasi ein Muss.

  • JA viel zu lange überfällig! Aber noch viel Besser wäre auch ein zwingendes Informationen Recht



    zur STASI +SED sowie auch zu Zeit des Adels / Kaiserreiches. Denn da sind auch noch große Familien Tragödien vergraben. Denn Adlige konnten bis 1917, teilweise bis 1945 ziemlich tun lassen was sie wollten. Das gleiche gilt für Priester, Pfarrer, Lama's, Zenmönche, Mullahs etc.

  • Was soll das denn heute, außerhalb von Wissenschaftlichen Studien bringen.

    Oma hat jemanden als 15 jährige Verraten oder war in den falschen verliebt.

    Der Opa des Nachbarn hat meine Großtante verpetzt, vielleicht ohne Belege. Gehe ich jetzt mal rüber und stelle ihn zur Rede oder diffamiere ich ihn gleich als Verräterenkel?



    Hier kann nichts gutes bei rauskommen,

    • @Dromedar:In:

      Komisch, am selben Tag schrieben Sie in anderem Zusammenhang:



      „ Das ist und bleibt das Ergebnis konsequentloser Erziehung und im Weiteren konsequentloser oder gar nicht erfolgter Strafverfolgung. Die Lachen sich bei dem Gedanken an die Justiz einfach schlapp.“

      Was denn nun? Konsequente Verfolgung oder nicht? Oder nur für Ausländer?

    • @Dromedar:In:

      Die Wahrheit! Und da könne nichts Gutes herauskommen.??



      Wahrheit, Gerechtigkeit, Freiheit



      sind absolut essentiell für eine Demokratie, auch wenn es zuallererst einmal sehr Schmerzhaft ist. Das Gemauschel, Verstecken und Lügen ist das was Demokratien weltweit zerstört!

      • @Arjun G. G.:

        Wahrheit, Gerechtigkeit, Freiheit



        Klingt toll.



        Aber nur in einer idealen Welt.



        Was ist wahr? Gerade bei Kollaboration liegen private und soziale Zwänge oft in einer Grauzone der aktuellen Umstände und können höchst unterschiedlich ausfallen.



        Man muss schon von sich sehr überzeugt sein um die damaligen Verhältnisse heute beurteilen zu wollen.



        Wenn weder Täter noch Opfer mehr Leben ist das Urteil heute wohlfeil.

  • Donald Trump wird wohl sehr viel häufiger als Faschist bezeichnet, als er es gegenüber anderen macht, oder?

  • Was steht da in den Akten? Werden da die Moffengriets, die von missgünstigen Nachbarn angeschwärzt wurden, noch mal auf die Straße gezerrt? Laut Jüdischer Allgemeine ist es das „zentrale Archiv der von den Niederlanden eingerichteten Sondergerichte zur Aburteilung von Nazi-Kollaborateuren“, ihr redet von „Kollaborations-Akten aus der NS-Zeit“. Was von beidem stimmt jetzt?

  • Ein Problem könnte auch sein, dass, wie anderswo berichtet wurde, nur so 15% Kollaborateure gerichtlich bestätigt sind. Die restlichen 85% wären dann mutmassliche Kollaborateure. Damit kann man mit einer offenen Datenbank vielleicht mehr Schaden als Nutzen anrichtet werden, z.B. wenn eine AI die Daten automatisch ausliest und mit irgendwas verknüpft.

    • @fly:

      Vollkommen richtig.



      Die erste Nachricht liest man, den Widerruf selten.

  • In Deutschland hatten wir dazu ja schon einen Praezedenzfall, die Stasiakten. Am Beispiel von Angela Merkel schrieb der Nordkurier letztes Jahr was dazu [1].

    Es wundert mich schon, dass die Problematik in den Niederlanden erst kurz vor Schluss erkannt wurde, schliesslich geht es um Daten von Verdaechtigen und Opfern.

    [1] www.nordkurier.de/...ffentlicht-2612030

  • Wenn nur in gleicher Weise für die Aufklärung von SED-Straftaten gesorgt würde. Im Sinne der Demokratie sollten auf jeden Fall auch für eine lückenlose Aufklärung von Taten von aktuellen und ehemaligen Politikern der Partei der Linken gesorgt werden.

    • @Andere Meinung:

      Wieso nur von aktuellen und ehemaligen Politikern der Partei der Linken? Wieso nicht von allen ehemaligen SED-lern, die Dreck am Stecken Haben?

      • @e2h:

        Richtig STASI, SED, NSDAP, SS, Übergriffigkeit ADEL bis 1917— aber teilweise auch bis 1945, ABER auch alle Parlamentarier - Staatsanwälte, Lobbyisten



        (die ganze sogenannte legale Korruption) usw.usw



        seit 1949 bis heute

  • Die positive Nachricht hier ist für mich die Initiation der Zugänglichkeit als politischer Wille.



    Digitale Maximalforderungen nachzuschieben, fand ich hier billig - aber leider nicht nur im juristischen Sinne.



    Akten zu digitalisieren ist Arbeit, die sich per Willensakt oder FDP-Plakat nicht real verkürzen lässt, sondern Fachkräfte, Budgets und viele analoge Jahreswandplaner beansprucht. DAS ist eine Barriere.

    Bei Wunsch nach barrierefreiem Paradies bitte recherchieren zum technischen Stand - so, wie im parallel erschienenen taz-Artikel zu den 540 km Akten mit 20 Mio Seiten Erfassung pro Jahr etc.

    Global würde es 6000 Jahre dauern, die analogen Bibliotheken der Menschheit zu digitalisieren, aber danach bitte analog weiter behalten - wer weiss schon, ab wann Musk & Dynastie die Dateiformate besitzten?

  • Ich halte nichts davon, die Akten online frei zugänglich zu machen. Wer ein berechtigtes Interesse hat, soll die Akten einsehen dürfen aber frei zugänglich hat das was von den Online Prangern in den USA, über die man sich in Europa sonst bestenfalls wundert