NRW-Innenminister Ralf Jäger: Die Belastung

Viele Skandale fallen in seine Amtszeit, zum Beispiel die Kölner Silvesternacht. Ralf Jäger befindet sich in der Defensive und setzt dennoch auf Angriff.

Reaktionsschnell und nassforsch – Ralf Jäger in Erwartung seines Auftritts vor dem Amri-Untersuchungsausschuss Ende März im Düsseldorfer Landtag Foto: Federico Gambarini/dpa/picture alliance

DÜSSELDORF/AACHEN taz | Ralf Jäger sitzt an einem kleinen Tisch im Raum E3A02 des Düsseldorfer Landtags, einem runden, holzverkleideten Saal. Durch die große Fensterfront sieht man die Kniebrücke über den Rhein. An diesem Mittwoch, der letzte im März, tagt hier seit 10 Uhr der Amri-Untersuchungsausschuss. Der Innenminister von Nordrhein-Westfalen sollte eigentlich am Mittag um eins mit seiner Aussage beginnen. Jetzt ist es zehn nach fünf.

Jäger, 56 Jahre alt, Sozialdemokrat, drahtige Figur, rotblonder Bürstenhaarschnitt, spricht zu Beginn fast eine halbe Stunde am Stück, sagt: „Ich bedauere zutiefst, dass es uns nicht gelungen ist, Anis Amri außer Gefecht zu setzen.“ Und erklärt, warum das rechtsstaatlich nicht möglich gewesen sei. Jäger hat das alles vielfach ausgeführt, er kennt den Fall bis ins Detail. Doch vor ihm liegt ein Zettel. Jäger liest ab.

Am 19. Dezember 2016 hat der Tunesier Anis Amri mit einem Lastwagen auf dem Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche zwölf Menschen ermordet. Amri war als Flüchtling im nordrhein-westfälischen Kleve gemeldet, sein Asylantrag war abgelehnt worden, abgeschoben wurde er aber nicht. Dabei hatte ihn die Polizei in NRW als „islamistischen Gefährder“ eingestuft.

Haben die Behörden versagt? Wer ist verantwortlich? Diese Fragen wollen die Abgeordneten klären. Die Opposition greift den Innenminister an. CDU-Landeschef Armin Laschet, der nach der Landtagswahl am kommenden Sonntag Ministerpräsident werden will, nennt Jäger ein „Sicherheitsrisiko“. Auch FDP und Piraten fordern seinen Rücktritt. Nur noch 24 Prozent der Bevölkerung sind mit Jägers Arbeit zufrieden.

Er wollte den Rockern „die Kutten ausziehen“

Nach der letzten Landtagswahl galt der Innenminister als der starke Mann im rot-grünen Kabinett, sogar bundesweit fiel er auf. Anders als viele seiner Kollegen ist Jäger, der aus einem Duisburger Arbeiterviertel stammt, kein Jurist. Glaubhaft gab er den Innenminister, der durchgreift, der aber das Maß nicht verliert. Jäger drohte, den Rockern „die Kutten auszuziehen“. Er ging gegen rechtsextreme Kameradschaften vor. Das kam an. Doch daran denkt heute kaum einer mehr. Jäger ist zur Belastung für die Regierung geworden. Wäre die Bindung an Ministerpräsidentin Hannelore Kraft nicht so eng, hätte diese ihn wohl längst entlassen.

Als Jäger in seinem Skiurlaub in Österreich von dem Lkw-Anschlag in Berlin und wenig später von dem Tatverdächtigen erfährt, ist ihm vermutlich schnell klar, dass es für ihn jetzt ums Ganze geht. In seine bald siebenjährige Amtszeit fallen viele Skandale, so viele wie wohl bei keinem anderen Innenminister. Mai 2012: Bei einer Salafisten-Demo werden zwei Polizisten durch Messerstiche schwer verletzt. September 2014: Mitarbeiter des Sicherheitsdiensts misshandeln Flüchtlinge in einer Landesunterkunft.

Ralf Jäger sagt ­mitunter Dinge, die sich schwer wieder einfangen lassen. Die Behörden seien im Fall Anis Amri „an die Grenze des rechtsstaatlich Möglichen“ gegangen. Das ist so ein Satz

Oktober 2014: Die Polizei unterschätzt eine Demonstration der HoGeSa, der „Hooligans gegen Salafisten“, in Köln, die in einer Straßenschlacht mit den Beamten endet. Dezember 2015: In der Silvesternacht werden Frauen am Kölner Hauptbahnhof massenhaft Opfer sexualisierter Gewalt. Dann Anis Amri. Und zuletzt flog auf, dass Polizeigewerkschafter Rainer Wendt seit vielen Jahren vom Land als Hauptkommissar bezahlt wird, ohne dafür zu arbeiten.

Der „Jäger 90“ des Düsseldorfer Landtages

Nach dem Berliner Anschlag bricht Jäger seinen Skiurlaub ab. In einer Pressekonferenz stellt er sich vor die Fernsehkameras und betont, wie wenig Zeit Amri in NRW verbracht habe. Soll wohl heißen: Eigentlich sind die Behörden in Berlin zuständig, wo sich der Tunesier vor allem aufhielt. Jäger ist in der Defensive, doch selbst da setzt er auf Attacke. Als er einfacher Landtagsabgeordneter war und die SPD in der Opposition, hat ihm das den Spitznamen „Jäger 90“ eingebracht. Jäger, der Angreifer – direkt, reaktionsschnell, nassforsch.

Mitte April, Jäger sitzt in seinem Dienstwagen, der ihn von Duisburg nach Aachen bringen soll, gerade beendet er eine Telefonkonferenz. Ralf Jäger hat sein ganzes Leben in Duisburg verbracht. Aufgewachsen ist er im Arbeiterviertel Meiderich. Sein Vater starb früh, manchmal musste der Sohn in der Kneipe seiner Mutter den Stahlarbeitern das Bier zapfen. „Ich habe da eine Menge gelernt“, plaudert Jäger. Auch, dass er der Erste in der Familie war mit Abitur.

Aus kleinen Verhältnissen, bodenständig und gradlinig, aufgestiegen durch die sozialdemokratische Bildungspolitik. Das ist ein Bild, das Ralf Jäger von sich kultiviert. Er absolviert eine Ausbildung zum Groß- und Außenhandelskaufmann, arbeitet als Gesundheitsreferent bei der Techniker Krankenkasse. Später beginnt er ein berufsbegleitendes Pädagogikstudium.

Vom Duisburger Ortsverein in die Regierung

Mit zwanzig Jahren tritt Jäger in die SPD ein. Es folgen kommunalpolitisches Engagement, Stadtratsposten in Duisburg, Vorsitzender des Ortsvereins, Landtagsmandat. Ralf Jäger wird stellvertretender Chef der Landtagsfraktion und Vorsitzender der Duisburger Sozialdemokraten – und damit ein Machtfaktor im SPD-Landesverband. 2010 bildet Hannelore Kraft eine rot-grüne Minderheitsregierung und beruft Ralf Jäger zum Minister für Inneres und Kommunales.

Kaum im Amt, kommen bei einer Massenpanik während der Loveparade in Duisburg 21 Menschen ums Leben, über 500 werden zum Teil schwer verletzt. Der neue Innenminister verspricht Aufklärung, greift Stadt und Veranstalter an und stellt sich vor die Polizei. Er reagiert schnell. Wie immer.

Dabei sagt er mitunter Dinge, die sich schwer wieder einfangen lassen. Die Behörden seien im Fall Amri „an die Grenze des rechtsstaatlich Möglichen“ gegangen. Das ist so ein Satz. Jäger hat ihn nach einer Sitzung des Innenausschusses in die Kameras gesagt. Dass das nicht zu halten ist, meint nicht nur die Opposition.

„Das war ein Fehler“

Auf der Fahrt nach Aachen hat sich Ralf Jäger auf der Rückbank inzwischen eine Krawatte umgebunden, jetzt schält er sich eine Banane, eine zweite liegt neben ihm auf der Ablage.

Herr Jäger, gibt es Sätze, die Sie nicht noch einmal sagen würden? Jäger denkt kurz nach, dann spricht er die HoGeSa-Demo im Oktober 2014 in Köln an. „Ich kannte die Bilder vom umgekippten Polizei-Bulli nicht. Und hab dann im Morgenmagazin gesagt: Guter Einsatz. Das war ein Fehler, ganz egal wie gut der Einsatz polizeitaktisch auch gewesen sein mag. Das kriegt man nicht zusammen.“

Und dass die Behörden im Fall Amri an die Grenze des rechtsstaatlich Möglichen gegangen seien – würden Sie das noch einmal in die Welt setzen? „Ja“, antwortet Jäger prompt. „Und zwar in dem Sinne, dass rechtsstaatlich heißt: nach Recht, Gesetz und Rechtsprechung.“ Ursprünglich hatten Sie es anders gesagt. Das ist eine Relativierung. „Das ist eine Klarstellung“, antwortet er knapp. Ralf Jäger kann locker und zugewandt reden, aber geht es um Politik, sagt er nur Sätze, die man von ihm schon kennt.

Kritik perlt an Jäger ab

Im Düsseldorfer Landtag befragen die Mitglieder des Untersuchungsausschusses den Minister an jenem Märztag bis in den Abend hinein, auf der Kniebrücke haben die Autofahrer längst das Licht eingeschaltet. Warum wurde Amri nicht abgeschoben? Jäger: Tunesien stellte keine Passersatzpapiere aus, verschleppte das Verfahren.

Warum wurde der Tunesier nicht in Abschiebehaft genommen, wie es Bundesinnenminister Thomas de Maizière rechtlich für möglich hält? Jäger: Weil das nach gängiger Rechtsprechung in der Praxis unmöglich sei, auch wenn der Kollege im Bund das anders sieht. Warum wurde der Paragraf 58a des Aufenthaltsgesetzes nicht angewandt, um Amri doch aus dem Verkehr zu nehmen? Jäger: Die rechtlichen Hürden waren zu hoch.

So geht es Runde um Runde. Zweifel, die die Abgeordneten vorbringen, perlen an Jäger ab. Bleibt einer hartnäckig, sagt Jäger Halbsätze: „Ich habe es schon mehrfach ausgeführt . . .“ Oder: „Obwohl wir schon mehrfach darüber gesprochen haben . . .“ – „Der behandelt uns wie kleine, unwissende Jungs“, knurrt einer der Abgeordneten, als er den Raum verlässt.

Er hat auch Positives bewirkt

Jäger, das wird in diesen Zeiten oft vergessen, hat in seiner Amtszeit auch Positives bewirkt. Überschuldete Städte wurden unterstützt, manche, wie Marl oder Minden, sind inzwischen schuldenfrei. Es war lange nicht mehr so viel Polizei in NRW auf der Straße wie heute. Und im Bereich der Salafismus-Prävention hat NRW ein Programm auf den Weg gebracht. Es heißt „Wegweiser“ und soll Jugendliche und junge Erwachsene vor Radikalisierung schützen.

Jäger ist inzwischen in Aachen angekommen. Er will hier den dreizehnten Standort von „Wegweiser“ eröffnen. In den kommenden Jahren sollen es insgesamt 25 werden. Der Minister steht am Rednerpult, spricht von religiöser Toleranz, betont, dass Demokraten Extremismus ablehnen und wie wichtig Prävention für eine zeitgemäße Strategie gegen Terror ist. Laut Redemanuskript soll er am Ende sagen: „Wir alle hier teilen die Überzeugung, dass der Weg, den wir vor drei Jahren mit ‚Wegweiser‘ eingeschlagen haben, der richtige ist. Lassen Sie ihn uns gemeinsam weitergehen.“ Doch das lässt Jäger weg.

Dass er den vierzehnten „Wegweiser“ noch als Innenminister eröffnen wird, gilt als unwahrscheinlich.

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